Gesellschaft Kolumnen

Gedanken zum Buch „Religionsgespräche mit einem Juden und einem Heiden“ von Gilbert Crispin

Muhammet Mertek

In diesem ersten Band von Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters, den Lehrdialogen des Benediktinerabtes von Westminster Gilbert Crispin, diskutieren ein Christ, ein Jude und ein nicht christlicher Philosoph über zentrale Glaubensfragen. Diskussionen dieser Art, die wenige Jahre vor dem ersten Kreuzzug offenbar nicht nur auf fiktiver Ebene, sondern durchaus reell geführt wurden, belegen, dass es auch damals schon Religionsgespräche gab, die von gegenseitigem Respekt und Achtung geprägt waren und denen jede nach außen gerichtete Aggressivität fehlte. Hätte man diesen vorbildlichen Dialog zwischen den Religionen in der Geschichte weiterverfolgt, käme heute wohl niemand auf die Idee, von einem Kampf der Kulturen oder Religionen zu sprechen.

Die Kreuzzüge führten zu einer Konfrontation zwischen der christlichen und der islamischen Kultur. Der Islam erlebte damals seine goldene Zeit, eine beispiellose Blüte, in der der Lebensstandard der Menschen sehr hoch war und in den Wissenschaften immer neue Fortschritte erzielt wurden. Durch die Muslime entdeckten die Europäer ihre eigenen geistigen Wurzeln der Antike und der Römerzeit wieder. Aber dennoch fand keine beidseitige Befruchtung statt. Die kriegerischen Auseinandersetzungen verhinderten ein friedliches Zusammenleben. Die Christen gingen an der muslimischen Kultur vorbei wie eine Tangente an einem Kreis. Eine große Chance wurde vergeben, und die Auswirkungen der Auseinandersetzungen jener Zeit sind auch heute noch zu spüren. Wer sehen möchte, wie die historischen Klischees weiter in den Köpfen herumspuken, braucht nur einen Blick in die Medienlandschaft unserer Tage zu werfen. Dort wimmelt es nur so von – auch und gerade – historisch bedingten Vorurteilen, die nur durch offene und aufrichtige Dialoggespräche abgebaut werden können.

Mehr denn je wird heute deutlich, dass wir praktisch gezwungen sind, Dialog zu führen. Warum? Gewaltsame Konflikte der Kulturen, wie wir sie in der Vergangenheit mehrmals erlebt haben, könnten heute den Untergang der ganzen Menschheit bedeuten. Also bleibt uns gar nichts anderes übrig, als Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Eine dieser Lehren lautet: Der Dialog zwischen den Anhängern der verschiedenen Religionen ist unverzichtbar. Er erlaubt den Menschen, einander näher kennen zu lernen, und ermöglicht ein friedliches Miteinander auf einer menschlichen Basis. Gerade die schlechten Erfahrungen, die wir in der Vergangenheit mit dem negativen Umgang mit anderen Kulturen und Religionen gemacht haben, sollten uns genug Anreiz geben, das Miteinander zu suchen.

In diesem Buch sprechen ein Christ, ein Jude und ein nicht christlicher Philosoph (Heide genannt) über Religionsfragen. Der Autor, ein Christ, übernimmt den Part der andersgläubigen Gesprächspartner. Höchstwahrscheinlich liegen dieser Schrift aber Dialoge zu Grunde, die tatsächlich geführt und möglicherweise vom Autor in Form eines Gedächtnisprotokolls aufgezeichnet wurden. Die Gespräche geben Aufschluss darüber, wie die Partner miteinander umgehen und mit welchen Fragen sie sich beschäftigen. Zum Teil wird erkennbar, dass die Partner mit ihren Ausführungen eine Überlegenheit ihrer Religion und heiligen Schrift sowie ihrer Anschauungen aufzuzeigen versuchen. In einigen Passagen etwa ist die Konkurrenz zwischen Judentum und Christentum fast greifbar. Diese Überlegenheit des Christentums gegenüber Judentum und Islam wollte Papst Urban II. bekanntlich schon kurze Zeit später unter Beweis stellen, als er 1095 in Clermont-Ferrand zum ersten Kreuzzug aufrief.

Inhaltlich werden besonders die Auslegung des Alten Testaments und die Person Jesu thematisiert. Der Jude bemüht sich aufzuzeigen, dass die Christen das Alte Testament falsch ausgelegt und unnötig verändert haben. In diesem Zusammenhang wird die christliche Gottesvorstellung ebenso weit und breit diskutiert wie die Frage, weshalb Gott Mensch geworden ist.

Gilbert, der Christ, führt den Thoravers „Der Mensch soll über die Tiere der Erde und über alle Kriechtiere, die sich auf der Erde bewegen, herrschen“ (Genesis 1,26) ins Feld und fragt sich, warum Gott den Menschen später verbietet, mit Hilfe von Ochs und Esel zu pflügen. Warum werde dem Esel wegen seiner Unreinheit das Pflügen verboten, wenn er doch zu allen möglichen anderen Tätigkeiten herangezogen werden darf? Aus diesem offensichtlichen Widerspruch folgert er, dass die Heilige Schrift – zumindest zum Teil – interpretiert werden dürfe und nicht wortwörtlich umgesetzt werden müsse:

„Deshalb muss die Interpretation auf die Unterschiede zwischen diesen Gesetzen achten und sich von Gottes Geist leiten lassen, weil es nicht möglich ist, dass alles im buchstäblichen Sinn erfüllt wird. Wenn wir aber verstehen, was das Gesetz eigentlich verlangt, werden wir verpflichtet sein, alle seine Gebote entsprechend zu beachten. Wir müssen dabei annehmen, dass einiges buchstäblich, nämlich ohne einen Mantel von Anspielungen und Bildern, gesagt ist, aber bei anderem müssen wir erkennen, dass es auf allegorischer Ausdrucksweise beruht, nämlich unter einem dichten Mantel von Anspielungen und Bildern verborgen ist. Gott hat befohlen, dass einige Gebote für eine gewisse Zeit beachtet werden müssen, andere sollen ohne jegliche zeitliche Einschränkung gelten.“

Diese Betrachtungsweise ist auch für die Wahrnehmung des Islams entscheidend. In Dialoggesprächen ist oft zu beobachten, dass die deutsche Öffentlichkeit offenbar mehrheitlich davon ausgeht, die Verse des Korans seien wortwörtlich zu nehmen und Auslegungen seien nicht gestattet. Daher sollten Muslime in solchen Dialoggesprächen deutlich machen, dass Auslegungen grundsätzlich möglich und in den weitaus meisten Fällen auch notwendig sind. Außerdem sollten sie darauf hinweisen, dass es unterschiedliche Auslegungsmethoden gibt. So müssen beispielsweise die Offenbarungsanlässe in die Interpretation mit einbezogen werden.

In Bezug auf die Person Jesu sagt der Jude, womit er den Dreieinigkeitsglauben strikt ablehnt:

„Lass uns zu Christus kommen, in dem der gesamte Kern der Fragestellung und der Auseinandersetzung liegt. Denn ihr pocht darauf, dass ihr in ihm den Urheber des neuen Kultes, der neuen Institutionen und des Gesetzes besitzt. Und du sagst von ihm, dass ich an ihn glauben soll. Ich halte Christus schon wegen des besonderen Ranges aller seiner Tugenden für den hervorragendsten Propheten und schenke Christus Vertrauen. Aber ich glaube nicht an Christus, und ich werde nicht an ihn glauben. Denn ich glaube an niemanden außer an Gott, und zwar an Gott allein.“ (S. 47)

Dieses Thema, das zwischen dem Christen und dem Juden hart diskutiert wird, ist auch für Muslime sehr wichtig. Natürlich steht der Jude in diesem Punkt der Lehrmeinung des Islams sehr nahe. Denn die christliche Gottesvorstellung wird nicht nur von Juden, sondern auch von Muslimen in Frage gestellt. Im Christentum selbst werden Glaubensinhalte wie die Dreieinigkeit seit Jahrhunderten diskutiert, und es spricht nichts dagegen, dass dieses und ähnlich grundlegende theologische Themen im Dialog zwischen Christentum, Judentum und Islam auch heute in aller Offenheit erörtert werden. Natürlich sollte es dabei keine Tabus geben.

Der Islam bietet einen dynamischen, in sich schlüssigen Glauben an Gott, der sich in der persönlichen Entwicklung des Individuums, im Leben in der Gesellschaft und in den zwischenmenschlichen Beziehungen widerspiegelt. Er erstreckt sich auf alle Lebensbereiche. Diese Tatsache führt immer wieder auch zu Kontroversen über vermeintliche Wahrheits- oder Absolutheitsansprüche, die man durchaus nicht scheuen sollte. In den entsprechenden Diskussionen sollte jedoch viel Wert darauf gelegt werden, dass man seinen Gesprächspartner nicht von der eigenen Meinung zu überzeugen versucht. Vielmehr muss es darum gehen, einander kennen zu lernen, sich zu informieren und den Gesprächspartner zu verstehen. Wir sollten wissen, welche Religion welche Werte anbietet, denn von diesen Werten können wir als Menschheit insgesamt nur profitieren. Gespräche wie die in diesem Buch geführten bieten uns die Gelegenheit, maßgebliche Paradigmen für den interreligiösen Dialog herauszuarbeiten und die Relevanz dieser Paradigmen für die Welt von heute aufzuzeigen.

Die Krise um die Karikaturen des Propheten Muhammad hat gezeigt, dass man wissen sollte, was Andersgläubigen ‚heilig‘ ist, oder was einen ‚heiligen‘ Wert besitzt. Interreligiöse Dialoggespräche können, wie dieses Buch eindrucksvoll beweist, die Wahrnehmungsfähigkeit anderer Menschen aus anderen Kulturkreisen schärfen. Sie verdienen es, auch in den Medien gewürdigt und einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht zu werden.

Gilbert Crispin
Religionsgespräche mit einem Juden und einem Heiden.
Mit einer Einleitung von Karl Werner Wilhelm;
Herder Verlag, Freiburg 2005

Letzte Aktualisierung: 20. November 2017
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