Gesellschaft Kolumnen

Mewlana Dschelaleddin Rumi (1207-1273)

Muhammet Mertek

Der berühmteste Sufi-Dichter und wohl prominenteste Urheber mystischer Poesie überhaupt wurde im Jahr 1207 in Balkh (im heutigen Afghanistan) geboren. Sein Vater, Baha‘addin Walad, war ein bedeutender religiöser Gelehrter und Sufi. Als der Sturm der Mongolen über Zentralasien hereinbrach, nahm er seine Familie mit Richtung Westen. Auf dem Weg in den Hedschaz besuchten sie u.a. auch die Stadt Naischapur. Hier erhielt der junge Dschalal ad-Din den Segen Faridaddin Attars, des bedeutendsten Sufi-Dichters jener Zeit. Die Familie unternahm die Pilgerfahrt nach Mekka, und machte sich dann auf nach Norden, nach Anatolien. Dort ließ sie sich in der Stadt Konya nieder.

Hier sollte Rumi die folgenden über 40 Jahre seines Lebens verbringen. Hier würde er seine unvergleichlichen Werke schreiben und die Inspirationen für seine erhabene Musik (Ney) und seine Derwische empfangen. Rumi wurde, wie schon sein Vater vor ihm, ein angesehener religiöser Gelehrter und entwickelte sich zu einer Autorität der Wissenschaften seiner Zeit. Um die Ausbildung Rumis in der „Wissenschaft der Propheten und Zustände“ kümmerte sich Sayyid Burhanaddin, ein enger Freund seines Vaters aus Balkh. Als Rumis Vater 1231 starb, hatte Burhanaddin gespürt, dass er in Konya gebraucht wurde, und war dorthin gereist, um den jungen Rumi fortan neun Jahre lang zu unterrichten.

Im Alter von 41 Jahren begegnete Rumi dann Schamsaddin Tabrizi. Die Begegnung mit diesem geheimnisvollen Sufi, über den wir nicht viel wissen, entflammte seine Seele und ließ ihn zu jenem einzigartigen Poeten der Liebe Gottes und der Erleuchtung werden. Als Rumi Tabrizi kennen lernte, soll er gesagt haben: „Mein Leben lässt sich in drei Zustände fassen: Einst war ich unreif (roh), dann wurde ich gekocht und schließlich gebraten.“

Unreif war er, bis er mit Sayyid Burhanaddin zusammentraf. Er war es, der ihn „kochte“. Als Tabrizi schließlich seinen Weg kreuzte, wurde er „gebraten“.

Nach dem Tod Tabrizis schloss Mawlana eine Freundschaft mit Salah ad-Din Zarkub, die 10 Jahre überdauerte. Nach dessen Tod lernte er Husamaddin Calabi kennen. Dieser Sufi ermunterte ihn, sein berühmtes Masnawi zu verfassen. Das Masnawi, das aus 26.000 Versen in persischer Sprache besteht und sein Diwan asch-Schams gelten als Rumis wichtigste Werke. Diese beiden Bücher, in denen sich Rumi mit Erkenntnis und Ekstase in Gott beschäftigt, sollten die Literatur und die spirituelle Landschaft der persischen und türkisch-sprachigen Welt für immer verändern.

Das spirituelle Milieu Rumis

Was müssen wir wissen, um von den Erkenntnissen, die Rumi uns anbietet, profitieren zu können?

Zunächst einmal sollte betont werden, dass die Tradition Rumis keine „östliche“ Tradition ist. Weder repräsentiert sie allein den Westen noch den Osten. Sie bewegt sich vielmehr in der Mitte von beiden: Rumis Muttersprache war Persisch – eine indo-europäische Sprache, die sehr stark vom semitischen Wortschatz beeinflusst war. Darüber hinaus bekräftigt die islamische Tradition, die Rumi entscheidend prägte, dass der Menschheit (durch zahllose Propheten und Gesandte, die zu allen Völkern der Erde geschickt wurden) nur eine einzige Religion gesandt wurde. Demnach ist Gott die erhabene Quelle allen Lebens. Seine Essenz kann zwar weder beschrieben noch mit irgendetwas verglichen werden. Aber Er kann durch spirituelle Qualitäten, die auf der Welt und im Herzen des Menschen zu finden sind, erkannt werden. Dieser Einschätzung liegt eine tiefe mystische Tradition zu Grunde, in der die Würde des Menschen und die soziale Gerechtigkeit eine herausragende Rolle spielen. Der Islam setzt die jüdisch-christliche Tradition Abrahams fort. Er verehrt die hebräischen Propheten ebenso wie Jesus und Maria. Im Unterschied zum Christentum jedoch betrachtet er Jesus nicht als Sohn, sondern vielmehr als Propheten Gottes.

In der Welt, in der Rumi lebte, hatte der islamische Way of Life dafür gesorgt, dass das spirituelle Bewusstsein der gewöhnlichen Menschen sehr ausgeprägt war. Der durchschnittliche Muslim nahm regelmäßig Waschungen vor, betete fünfmal täglich, hielt sich an die Fastenzeiten und folgte bestimmten weiteren Regeln, die ihn zu Integrität, Freigebigkeit, Respekt vor dem Leben und zum Gedenken Gottes anhielten. Das Masnawi, eines der beiden Hauptwerke Rumis, spricht den Menschen zwar auf vielen ganz unterschiedlichen Ebenen an. Es setzt jedoch bereits ein hohes Maß an spirituellem Bewusstsein voraus und erstreckt sich bis zu den Grenzen spirituellen Begreifens.

Ein unaufgeklärter Mensch trägt Rumi zufolge Eigenschaften der Ungläubigkeit in sich; so befindet er sich auf einer Stufe, auf der er von seinem falschen Selbst und von materiellen Bedürfnissen „versklavt“ wird. Die spirituellen Praktiken Rumis zielten darauf ab, dem Menschen dabei zu helfen, sich der Tyrannei des falschen Selbst zu entledigen und den Islam anzunehmen, d.h., sich einer höheren Ordnung der Realität zu unterwerfen. Rumi ging davon aus, dass das wahre Selbst ohne diese Unterwerfung dem Ego verfallen ist und in einem Zustand des inneren Konflikts lebt. Das Ego wiederum verwirrt das Selbst durch widersprüchliche Impulse, die es ständig aussendet. Es hat den Kontakt zum Herzen, dem Organ, das für die Wahrnehmung der Realität zuständig ist, verloren und kann nicht von der spirituellen Rechtleitung und der „Nahrungs-„zufuhr, die das Herz bereithält, profitieren. Die Überwindung der Tyrannei des Egos und jener irreführenden Trennung führt zur Verwirklichung und Weiterentwicklung unseres wahren Menschseins. Die spirituelle Reife des Menschen besteht in der Vergegenwärtigung der Tatsache, dass das Selbst eine Reflexion des Göttlichen darstellt. Dabei ist Gott der Geliebte oder Freund des Menschen; Er ist seine transpersonale Identität. Die Liebe Gottes lässt den Liebenden sich selbst in der Liebe des Geliebten vergessen.

Aus diesem Grund begann Rumi zu tanzen. Er tanzte, bis er einen ekstatischen Zustand erreichte, in dem er sich in Gott „auflöste“. Sein Tanz war ein Kreisen (Sema) um die eigene Achse, der in dem Kapitel „Das Sema-Ritual“ detailliert beschrieben wird.

Vergebung, Barmherzigkeit und Respekt vor dem Menschen sind Werte, die der Koran und der Prophet Muhammad immer wieder betonen und einfordern. Rumi erfuhr diese Werte mit seiner eigenen Persönlichkeit. Er verarbeitete sie auf seine ihm eigene erhabene Art und Weise und sorgte dafür, dass sie hell erstrahlten.

Rumi war nicht einfach ein Dichter, der gelegentlich sufistische Rituale praktizierte, sondern ein großer Sufimeister, in dessen Verse die Rhythmen seiner Seele Eingang fanden. Seine geistige Entwicklung wurde aber nicht nur von seinem spirituellen Umfeld geprägt. Den gesellschaftlichen Strömungen seiner Zeit konnte auch er sich nicht entziehen. Damals litten die Menschen in der islamischen Welt sehr stark unter den grausamen Attacken und der Tyrannei der Mongolen. Unter diesen schwierigen Umständen war Rumi ein aufrechter Verfechter einer Philosophie des Respekts und der Ehre, die den Menschen eine Befreiung aus ihrer schlimmen Lage in Aussicht stellte.

Er gründete den Mawlawi-Orden, dessen Musik und Dichtkunst das Osmanische Reich entscheidend prägten. Rumi erhielt den Beinamen Mawlana (Unser Meister), weil er seine Anhänger die Entwicklung ihres Selbst lehrte. Seine Methode, auf diesem Gebiet Fortschritte zu erzielen, beruhte auf drei Elementen, die die Hürden der menschlichen Kommunikation überwinden sollten: der Musik (Ney), der Poesie und dem Kreisen (Sema). Diese drei Elemente fanden im Sema-Ritual (s.u.) zusammen.

Die Historie der Mawlawi-Orden bis in die Gegenwart

Nach dem Tode Rumis gelang es seinen Anhängern, den Mawlawis, das Sema-Ritual immer populärer zu machen. Die Semahanes (Zeremonienräume), die sie zur Ausübung ihres Rituals bauten, wurden zu beliebten Treffpunkten und fungierten auch als Schulen. Ziel dieser Einrichtungen (die auch Tekke genannt wurden) war es, die ganze Gemeinschaft durch das Sema-Ritual und durch gemeinsames Musizieren aufzuwerten.

Nach Rumis Tod im Jahre 1273 war es sein Sohn Sultan Weled, der das Sema-Ritual nach den Vorgaben des Vaters weiterführte. Diese Praxis blieb bis zum Untergang des Osmanischen Reichs 1924 weitgehend unverändert. Mit der Verbreitung der Mawlawis einher ging die Expansion des Osmanischen Reichs im Mittelmeerraum, auf dem Balkan und in Osteuropa. Schon bald wurden auch in den meisten dieser Länder im Laufe der Zeit Semahane gebaut. Viele dieser Gebäude existieren noch heute.

In der neu gegründeten Türkischen Republik wurden die Tänze vorübergehend verboten und die Semahane geschlossen. Die Derwisch-Praktiken, die in den Semahane abgehaltenen Versammlungen und die Initiationsriten passten offensichtlich nicht zum Charakter der neuen Republik. 1927 wurde am Grab Rumis in Konya ein Museum zu Ehren des Mystikers eröffnet. Es sollte aber bis zum Jahr 1953 dauern, bis erstmals wieder ein Sema-Ritual in der Öffentlichkeit aufgeführt werden durfte. Bis zum heutigen Tage sind die Türen der Semahane versperrt geblieben, doch werden auf privater Ebene wieder vermehrt Sema-Rituale aufgeführt. Die Mawlawis begannen, Ausländer, die nicht in der Türkei lebten, in ihr Ritual einzuweihen. Dadurch gelang dieser Tradition der Sprung ins dritte Jahrtausend. In mehreren Ländern widmeten sich fortan unterschiedliche Gruppen verschiedenen Aspekten des Rituals. Die meisten von ihnen erlernten die Technik des Kreisens und die Eigenarten der Musik über Aufnahmen und Berichte. Daher folgt das Sema-Ritual heute nicht überall seiner ursprünglichen Tradition.

Außerdem werden in der Stadt Konya zu Ehren Rumis alljährlich im Monat Dezember Sema-Tänze dargeboten.

Der Dichter und Sufi Dschelaleddin Rumi wurde zu einem leuchtenden Stern der persischen und türkisch-sprachigen Welt, der er bis heute geblieben ist. Inzwischen haben sich der Stellenwert und die großartige Persönlichkeit dieses Meisters der Liebe und der Ekstase bis nach Europa herumgesprochen. Seine Lehren, die in den vergangenen sieben Jahrhunderten schon zahllosen Generationen der östlichen Welt Orientierung geboten haben, haben in den letzten Jahren auch Herz und Verstand vieler Menschen im Okzident erleuchtet. Seine Gedanken und Werke besitzen auch heute noch, über 700 Jahre nach seinem Tod, die gleiche Vitalität wie zu seinen Lebzeiten. Die UNESCO erklärte darum das Jahr 1995 zum Jahr Mewlana Dschelaleddin Rumis.

Das Sema-Ritual

Weißt du, was Liebe ist?
Zu lieben heißt,
das „Ich“ und das „Wir“
und all unsere Vorstellungen
im Hinblick auf das „Sein“ zu vergessen
und alle Wünsche und alle Schönheit im Schöpfer der Schönheit aufzulösen.

(Rumi)

Das Sema-Ritual entstand durch die Inspiration des Gelehrten und Sufis Mewlana Dschelaleddin Rumi. Von der herrschenden türkischen Kultur jener Zeit wurde es maßgeblich mit beeinflusst.

Die moderne Wissenschaft hat bestätigt, dass das Kreisen der Urzustand unserer Existenz ist. Es gibt kein Wesen und auch kein Objekt, das sich nicht drehen würde; denn alles setzt sich aus rotierenden Elektronen, Protonen und Neutronen zusammen, die im Atom umeinander kreisen. Alles dreht sich, und der Mensch lebt durch den Wirbel dieser Teilchen, durch die Zirkulation des Blutes in seinem Körper, durch die Abfolge der Phasen seines Lebens und nicht zuletzt durch seine Abstammung von der Erde und seine Rückkehr zu ihr.

All diese Drehungen sind ganz natürlich und geschehen unbewusst. Daneben besitzt der Mensch jedoch auch Verstand und Intelligenz, die ihn von anderen Lebewesen unterscheiden. Mit ihrer Hilfe nehmen die Tanzenden Derwische (türkisch: Semazen) willentlich und ganz bewusst an den Drehungen anderer Lebewesen teil.

Ziel der Tanzenden Derwische ist nicht, wie oft fälschlich angenommen wird, das Bewusstsein zu verlieren. Auch ist ihr Tanz nicht mit irgendwelchen folkloristischen Darbietungen zu verwechseln. Nein, indem sich der Tanzende Derwisch in völliger Harmonie mit allen Dingen und Lebewesen in der Natur – mit den kleinsten Zellen ebenso wie mit den Sternen am Firmament – dreht, legt er von der Existenz und Majestät des Schöpfers Zeugnis ab. Er gedenkt Seiner, spricht Ihm seinen Dank aus und betet zu Ihm. Mit seinem Tanz bekräftigt der Tanzende Derwisch die Aussage des Verses:

Es preist Gott, was in den Himmeln und auf der Erde ist. (64:1)

Ein sehr wichtiges Merkmal dieses sieben Jahrhunderte alten Rituals ist, dass es die drei grundlegenden Komponenten der menschlichen Natur in sich vereint:

  • den Verstand (als Wissen und Vorstellungskraft),
  • das Herz (durch den Ausdruck von Gefühlen, Poesie und Musik) und
  • den Körper (durch die Aktivierung des Lebens und durch die Drehungen).

Diese drei Komponenten finden im Tanz der Derwische sowohl in der Theorie als auch in der Praxis perfekt zusammen.

Die Sema-Zeremonie repräsentiert die spirituelle Reise des Menschen – einen Aufstieg durch Intelligenz und Liebe zur Vollkommenheit (Kemal). Wenn sich der Mensch mit der Wahrheit beschäftigt, wächst er durch Liebe. Er überschreitet die Grenzen seines Ichs, begegnet der Wahrheit und gelangt zur Vollkommenheit.

Dann kehrt er als jemand, der Reife und Ganzheit gefunden hat, von seiner spirituellen Reise zurück – fähig zu lieben und der ganzen Schöpfung mit all ihren Geschöpfen zu dienen, ohne zwischen Glauben, Klasse oder Rasse zu unterscheiden.

In der Symbolik des Sema-Rituals stehen die aus Kamelhaar gefertigten Filzhüte des Tanzenden Derwischs (Sikke) für die Grabsteine des Egos. Die weiten weißen Gewänder wiederum stellen die Leichentücher des Egos dar. Indem sich der Tanzende Derwisch seines Umhangs entledigt, wird er spirituell wieder geboren. Zu Beginn des Rituals kreuzt der Tanzende Derwisch seine Arme und formt mit ihnen die Zahl Eins. Auf diese Weise bestätigt er die Einheit Gottes. Während er sich im Kreis dreht, sind seine Arme weit ausgebreitet. Sein rechter Arm weist Richtung Himmel, bereit, die Gunstbeweise Gottes entgegen zu nehmen. Seine linke Hand, auf die seine Augen geheftet sind, zeigt zur Erde. Der Tanzende Derwisch überbringt seinem Publikum das spirituelle Geschenk Gottes. Er dreht sich von rechts nach links um die eigene Achse – sein Herz – und umschließt so die ganze Menschheit in Liebe. „Liebevoll wurde der Mensch erschaffen, auf dass er selbst Liebe gebe“, sagt Mewlana Dschelaleddin Rumi, und: „Jede Liebe schlägt eine Brücke zur Göttlichen Liebe. Diejenigen, die sie noch nie gefühlt haben, kennen sie nicht!“

M. Mertek/W. Willeke

Die Fontäne, Ausgabe 20, April 2003

Letzte Aktualisierung: 7. Januar 2017
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