Gesellschaft

Macht uns die Gesellschaft krank?

Wenn ich die Bedeutung der Gesundheit prägnant zum Ausdruck bringen möchte, fällt mir sofort der bekannte Vers vom Sultan Süleyman, dem Prächtigen, ein:

Für das Volk gibt es nichts, was wertvoller ist als der Staat;
Kein Staat auf der Welt ist wertvoller als ein gesunder Atemzug.”

Obwohl der Staat der türkischen kulturellen Tradition zufolge etwa für heilig gehalten wird, wird die Gesundheit noch höher eingestuft.

Sie ist das höchste Gut und sie liegt in der Hand bzw. der Verantwortung des Menschen. Krank machen uns weder die Gesellschaft noch die anderen.

Letztendlich sind wir diejenigen, die die Entscheidung für unsere Gesundheit treffen, wenn wir in entwickelten westlichen Gesellschaften leben. Aber gilt es für diejenigen, die in den Wüsten Afrikas leben? Und die unglücklichen Menschen, die jahrzehntelang ausgebeutet und ihrem Schicksal überlassen wurden. Sie hatten diese Chance nicht. Die Ursache liegt nicht bei denen, die dauernd in Entbehrung leben müssen.

Suitbert Cechura verdeutlicht dies anhand eines überzeugenden Beispiels:

Der Erreger der Ebola-Epidemie war schon lange bekannt und die Krankheit trat und tritt nur in einigen Regionen Afrikas auf. Solange dort nur eine begrenzte Zahl von Menschen erkrankte und die Epidemie durch das Aussterben ganzer Dörfer verschwand, gab es kein Interesse, einen Impfstoff gegen diese Krankheit zu entwickeln. Und man hat in der Öffentlichkeit von diesen Epidemien nichts erfahren. Der Markt für diese Krankheit war zu klein und die Patienten nicht zahlungsfähig. Deshalb gab es keinen Anlass für die Pharmaunternehmen, Impfstoffenzu entwickeln. Staatlich gelenkte Pharmaunternehmen, die aus ethischen Gründen Medikamente in die Forschung für spezielle medizinische Bedarfe der Entwicklungsländer investieren, gab und gibt es nicht. Die Vergabe von Forschungsgeldern ist jedoch durchaus ein Steuerungsinstrument. Es ist also nicht die Sorge um die Gesundheit, die entsprechende Forschung vorantreibt, sondern das politische oder wirtschaftliche Interesse, das darüber entscheidet, ob Medikamente entwickelt und Krankheiten bekämpft werden. Erst als die Epidemie auf weitere Regionen übergriff und nicht mehr ausgeschlossen war, dass über den weltweiten Flug- und Geschäftsverkehr eine Weiterverarbeitung der Seuche drohte, sahen sich die Regierungen der entwickelten kapitalistischen Staaten veranlasst, Gelder zu bewilligen, um die Seuche einzugrenzen und entsprechende Impfstoffe zu entwickeln.

Es gibt alle Mittel um die Seuchen zu vermeiden, schnell Impfstoffe zu entwickeln. Aber dafür muss der Markt genug attraktiv sein. Für das kapitalistische System sind der Markt und das Eigeninteresse die entscheidenden Steuerungsinstrumente, nicht die Gesundheit. Solange die Menschen in Afrika keinen Marktwert haben, können sie ruhig sterben, egal aus welchen Gründen. Etwa so stellt es Suitbert Cichura dar. Betroffen sind aber bekanntlich ja nicht nur Menschen, die in Afrika an seltenen Krankheiten leiden. Auch die Erforschung seltener Krankheiten in westlichen Ländern steht hinten an. Es ist in der Tat eine heikle Güterabwägung nicht nur finanzieller Art, ob beispielsweise in die Krebsforschung investiert wird oder in die Behandlung einer seltenen Hautkrankheit wie Ichtyose.

Das profit- und ausbeutungsgierige Gesicht des Kapitalismus ist auch so abscheulich wie das des Kommunismus, Faschismus und Rassismus. Ein geldgieriges System, das die Gesundheit der Gesellschaften dafür opfert? Im neu erschienenen Buch von Dr. Suitbert Cechura „Unsere Gesellschaft macht krank – Die Leiden der Zivilisation und das Geschäft mit der Gesundheit“ erfahren wir viele Beispiele, wie Gesundheit wirtschaftlichen Interessen untergeordnet wird.

Um gesund zu leben, müssen wir einige medizinische Begriffe wissen, unseren Körper kennenlernen und uns mit den Ursachen der Krankheiten auseinandersetzen. Dies bietet uns das Buch mit einer verständlichen Sprache an.

Dass die Hauptursachen der Krankheiten an Rauchen, Alkohol, ungesunden Ernährung und wenigen Bewegung liegen, weiß jeder. Aber das genügt nicht. Es ist nicht so leicht, ohne reflektiertes Wissen und Bewusstsein eine entsprechende gesunde Lebensform zu entwickeln.

Cechura sieht auch hier den Staat in der Verantwortung: „Verwiesen wird auf die Unvernunft der Armen, die sich nicht gesundheitsbewusst verhalten, stattdessen häufiger rauchen, mehr Alkohol konsumieren, sich nicht gesund ernähren und sich zu wenig bewegen. Erstaunlich ist nur, dass die Vernunft in Sachen Gesundheit so unterschiedlich nach sozialer Lage verteilt ist. Einen Vorwurf an das Bildungssystem will niemand daraus machen, das so viel Unvernunft hervorbringt. Es spricht aber viel dafür, dass es die Lebensumstände einer großen Anzahl von Menschen sind, die diesen nahelegen, gegen die Vernunft zu handeln. Es ist ein Hinweis darauf, dass die Frage der Gesundheit und Krankheit nicht nur eine Sache der Vernunft, sondern auch der sozialen Lage in dieser Gesellschaft ist.“ (S.20)

Viele Beispiele liefern Hintergrundwissen über Schadstoffe, die bei Rauchen oder Alkoholkonsum zu Herz- und Kreislaufkrankheiten und Krebs führen, und über die wichtigen Faktoren, die bei Cholesterin, Diabetes, Stress und psychischen Krankheiten eine Rolle spielen. 

Was auf der Linie von Patienten, Apotheken und Krankenhäusern sowie im Dreieck von Patienten, Ärzten und Krankenkassen gedreht und erlebt wird und wie das Gesundheitssystem insgesamt funktioniert, wird sehr offen erläutert.

Wie die Pharma-Industrie dem Autor zufolge von Krankheits- und Todesursachen oft profitiert, statt sie zu bekämpfen, wie der Gesundheitsmarkt selbst vom Staat zu Ungunsten von Patienten reguliert wird, möchte ich hier nicht verraten.

Das Buch, in dem der Rehabilitationswissenschaftler und Psychotherapeut Dr. Suitbert Cechura seine langjährigen Erfahrungen weitgehend im Lichte der wissenschaftlichen Studien darstellt, liefert nicht nur viele hilfreiche Informationen über die Gesundheit im Allgemeinen, sondern auch über knallharte Interessenpolitik im Gesundheits- und Forschungswesen.

Beim Lesen des Buches bekommt man ein Gefühl, dass die entwickelten Staaten nicht nur in der internationalen Außenpolitik, sondern auch in der eigenen Gesundheitspolitik pragmatisch handeln. Der Autor tut gut daran, die ethische Frage in den Mittelpunkt zu rücken und das Gesundheitssystem in dieser Hinsicht zu hinterfragen.

Muhammet Mertek

Letzte Aktualisierung: 3. Oktober 2018
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