Gesellschaft Kolumnen

Haben wir unseren Geist zurückgelassen?

Es gibt ja eine bekannte Indianergeschichte. Ein weißer Mann freundet sich mit einem alten, weisen Indianer an und begibt sich mit ihm auf eine Reise. Der weiße Mann treibt sein Pferd in den Galopp, wodurch der Indianer gezwungen ist, mit ihm mitzuhalten. Auf der Reise rasten sie nur kurz, essen schnell und fällen auch ihre Entscheidungen in Eile. Als sie sich einem Dorf nähern und der weiße Mann sich umschaut, sieht er den weisen Indianer nicht mehr. Er reitet zurück und findet ihn unter einem Baum sitzend. Auf die Frage, warum er nicht weitergeritten sei, antwortet er: „Unser Geist ist zurückgeblieben.“

Auch den Menschen in der Welt von heute ergeht es nicht anders. Sicherlich, Technologien beschleunigen unser Leben, aber wir dürfen ihnen unseren Geist nicht überlassen und müssen selektiv vorgehen; insbesondere dann, wenn wir uns vergegenwärtigen, welche Bedürfnisse sie befriedigen. Produkte und Güter, die sich hauptsächlich auf Äußerlichkeiten beschränken, nehmen einen zentralen Platz ein, während Bedürfnisse rund um unseren Geist und unser Seelenleben in den Hintergrund gerückt sind.

Vor allem Jugendliche sind diesen materiellen Verlockungen ausgesetzt. Aber andererseits: Was bieten wir ihnen auch an immateriellem Reichtum an, um ihr Seelenleben zu bereichern, ihr Bewusstsein zu erweitern, ihre spirituelle Leere zu füllen? Unser Leben vergeht im Nu, ohne dass wir merken, wie und womit wir unsere Zeit verbringen. Da kann man nur vor Menschen Respekt haben, die ihr Leben bewusst im Einklang mit ihrem Geist leben.

Menschen, die die Bedürfnisse ihres Geistes berücksichtigen, ihn nicht zurücklassen, haben eine vielversprechende Zukunft vor sich. Andere werden Umwege in Kauf nehmen müssen, sich ihrer selbst weniger bewusst sein und auch auf weltlicher Ebene größere Probleme haben. Nur eine ganzheitliche, ausgewogene Perspektive verwandelt einen schwierigen, steinigen Weg in einen geraden, gut gangbaren.

Platon (428-348 v.Chr.), der große Philosoph der Antike, wurde einst gefragt: „Was für Verhaltensweisen der Menschen versetzen Sie am meisten in Staunen?“

Der Philosoph zählte auf:

„Sie langweilen sich in der Kindheit und beeilen sich mit dem Aufwachsen. Dann aber haben sie Sehnsucht nach der Kindheit. Um Geld zu verdienen, setzen sie ihre Gesundheit aufs Spiel, anschließend aber zahlen sie viel Geld, um ihre Gesundheit zurückzugewinnen. Sie sorgen sich um die Zukunft und vergessen darüber die Gegenwart. Daher erleben sie weder Gegenwart noch Zukunft. Sie leben so, als ob sie nie sterben würden. Aber sie sterben, als ob sie nie gelebt hätten.“

Daraufhin stellte man ihm eine zweite Frage: „Nun, was würden Sie denn vorschlagen?“ Der Gelehrte entgegnete: „Heische bei niemandem um Zuneigung. Es ist unmöglich, von allen akzeptiert zu werden. Tue, was du für richtig und gut hältst. Menschen, die dies schätzen, werden dich sowieso mögen. Auf diese Weise wirst du die besseren und vernünftigeren Menschen um dich scharen können. Wichtig ist nicht, dass man im Leben viel Hab und Gut besitzt, sondern dass man nur nach sehr wenigen Dingen ein Bedürfnis verspürt.“

Wir können viele Dinge besitzen, aber können diese Dinge wirklich unsere spirituellen und andere grundlegenden Bedürfnisse sättigen? Oder sind die Probleme, mit denen wir uns konfrontiert sehen, nicht auch das Resultat einer allzu verschwenderischen und willkürlichen Nutzung von technologischen Produkten? Werte wie Treue oder Selbstlosigkeit, die die Beziehungen zwischen den Menschen nachhaltig werden lassen, scheinen in unserer kurzlebigen Welt zunehmend an Bedeutung zu verlieren. Es ist ein ganz feiner, aber wichtiger Unterschied, ob man meint, man besitze bestimmte Werte, oder man diese Werte tatsächlich verinnerlicht hat und lebt.

Eine weitere Anekdote: Ein Deutscher ist in Afrika mit einem Stadtbus unterwegs. Der Busfahrer stoppt an einem Waldstück und sammelt eine halbe Stunde lang Pilze. Als er wieder in den Bus zurückkehrt, fragt der Deutsche ihn, warum er sie so lange habe warten lassen. Daraufhin bekommt der Deutsche eine vielaussagende Antwort: „You have got the watch, we have got the time!“ (Sie besitzen eine Uhr, wir besitzen die Zeit.)

Die Zeit sollte nicht in den Zeigerkreis einer Uhr gesperrt oder bestimmten Ritualen untergeordnet werden. Vielmehr sollte sie mit Sinn, Authentizität und Wirklichkeit gefüllt langsam durch den Filter unseres Geistes und unserer Seele rinnen. Dann vergeht sie zwar, schenkt aber dennoch Erfüllung. Dies ist die eigentliche Essenz. Die Essenz, die unser Verhältnis zu Raum und Zeit auflockert, unserem Bewusstsein mehr Klarheit und unserem Seelenleben mehr Tiefe verleiht. Mit ihrer Hilfe können wir unsere Probleme lösen, ohne nur an der Oberfläche zu kratzen. Mit ihrer Hilfe und mit einem Geist, der der Schönheit, dem Guten und dem Wahrhaftigen zugeneigt ist.

Muhammet Mertek

Letzte Aktualisierung: 14. Januar 2017
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