Gesellschaft Kolumnen

Dialog als menschliche Verpflichtung

Muhammet Mertek

Schon seit vielen Jahren bemühe ich mich darum, sowohl an Dialogprojekten teilzunehmen als auch sie aktiv zu initiieren. Diese Projekte verfolgen naturgemäß ganz unterschiedliche Ansätze und setzen ebenso unterschiedliche Schwerpunkte. Dennoch tauchen bestimmte grundsätzliche Fragen immer wieder auf: Warum sollen Menschen überhaupt Dialog führen? Worin liegt der Sinn des Dialogs?

Warum steht der Begriff Dialog schon seit so langer Zeit auf der Tagesordnung? Diese letzte Frage möchte ich einmal anders formulieren: Warum muss das Dialogführen heute überhaupt noch thematisiert werden, wo doch schon seit einem halben Jahrhundert Muslime in Deutschland leben und wo doch schon vor und seit etlichen Jahren über Multikulturalität, Ausländer, fremde Kultur und Leitkultur diskutiert wurde.

Das Problem ist, dass all diese Diskussionen keinen echten und aufrichtigen Dialog zwischen Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen in Gang setzen konnten. Ein solcher Dialog stellt auch heute noch eine große Herausforderung dar.

Wo liegen die Gründe? Ein kurzer Blick in die Geschichte: Die Kreuzzüge führten zu einer Konfrontation zwischen der christlichen und der islamischen Welt. Der Islam erlebte damals seine goldene Zeit, eine beispiellose Blüte, in der der Lebensstandard der Menschen sehr hoch war. Auch in den Wissenschaften wurden damals immer neue Fortschritte erzielt. Durch die Muslime entdeckten die Europäer schließlich ihre eigenen geistigen Wurzeln der Antike und der Römerzeit wieder. Aber dennoch fand keine beidseitige Befruchtung statt. Kriegerische Auseinandersetzungen verhinderten ein friedliches Zusammenleben. Die Christen gingen an der muslimischen Kultur vorbei wie eine Tangente an einem Kreis. Eine große Chance wurde vertan, und die Auswirkungen der Auseinandersetzungen jener Zeit sind bis heute zu spüren. Wer sehen möchte, wie die historischen Klischees weiter in den Köpfen herum spuken, braucht nur einen Blick in die Medienlandschaft unserer Tage zu werfen. Dort wimmelt es nur so von auch – und gerade – historisch bedingten Vorurteilen, die nur durch offene und aufrichtige Dialoggespräche abgebaut werden könnten. Und leider gibt es immer wieder Leute, die sich trotz aller gewaltsamen Konflikte in der Vergangenheit gegen das friedliche Miteinander der Kulturen stemmen. Ein typisches Beispiel dafür liefert ein Artikel aus der „Süddeutsche Zeitung“ (04. 22. 2007), wo eine „Sozialwissenschaftlerin und Islamkritikerin“ folgendermaßen zitiert wird:

„Doch was ist darunter zu verstehen, wenn Koran und Sunna der Maßstab des Handelns sind? Gläubige Muslime berufen sich in ihrem religiösen Leben auf den Koran und die Sunna, die religiösen Traditionen. Einige Traditionen stehen aber mit den Grundrechten der Zivilgesellschaft in Konflikt: die Ungleichbehandlung von Frauen in Gesellschaft und Recht; das Tragen von Kopftüchern bei Frauen und Kindern, der Zwang zur Heirat, die Verwandtenehe, die Babyheirat, die Blutrache, der Ehrenmord, die Beschneidung von Mädchen und Jungen, der Versuch, Mädchen vom Unterricht fernzuhalten, die soziale Kontrolle, die Gewalt in der Familie.“

An den hier erhobenen Vorwürfen, die mir mehr als unsachlich, ja einfach völlig falsch erscheinen, lässt sich sehr schön ablesen, welche Begriffe und Themen in Diskussionen über den Islam und die Muslime immer und immer wieder erörtert und wiedergekaut werden. Abgesehen davon, dass ich mich ernsthaft frage, was solche vermeintlichen Islam-Experten mit der Verbreitung so offenkundiger Unwahrheiten eigentlich erreichen wollen, zweifle ich leider auch an der Glaubwürdigkeit der deutschen Politik, wenn sie Personen wie unter anderem die Zitatgeberin hofiert. Jenseits aller legitimen Kritik spricht aus den Zeilen oben eine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, die bedauerlicherweise in der Politik auch noch Akzeptanz findet. Und so kann es nicht verwundern, dass sich Islamophobie und Fremdenfeindlichkeit in den letzten Jahren immer weiter ausgebreitet haben. Angesichts der Tatsache, dass eine Trendwende in dieser Hinsicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt leider nicht in Sicht ist, sollten wir uns bei unseren Dialogbemühungen auf niemanden verlassen, sondern selbst auf allen Ebenen die Initiative ergreifen.

Dialog zu führen, ist an sich ebenso einfach wie menschlich. Schon immer haben sich Menschen getroffen, am Tisch miteinander gesessen und geredet. Warum also sind alle bisherigen Bemühungen kaum von Erfolg gekrönt gewesen? Hier liegt nun der Hund begraben: Der Fehler liegt bei uns, in uns selbst. Zwar betrachten wir uns zum einen als moderne, offene und demokratisch gesinnte Menschen und behaupten, im Zeitalter der Kommunikation zu leben; zum anderen sind wir einfach nicht (mehr) dazu in der Lage, einen vernünftigen Umgang zwischen Menschen zu pflegen. Diese Schwäche haben wir lange Zeit nicht richtig wahrgenommen, sie ist uns nicht weiter aufgefallen. Überschattet wurde sie vor allem von sensationsheischenden Berichterstattungen, Manipulationen, Vorurteilen und Klischees. So haben wir es versäumt, Menschen aus fremden Kulturen näher kennen zu lernen und sie darüber hinaus in ihrem Sosein zu akzeptieren.

Das Eintreten in einen Dialog ist der erste und wichtigste Schritt zu einem Miteinander und zu jenem Kennenlernen, das bis heute nicht richtig erfolgt ist. Zu viel Zeit wurde mit schönen Worten verschwendet. Darum plädiere ich für eine pragmatische, realistische und vor allem aufrichtige Herangehensweise. Meine Erfahrung ist folgende: In Dialoggesprächen werden immer wieder die gleichen Dinge diskutiert, die zum größten Teil von den Medien auf die Tagesordnung gebracht wurden: Frau im Islam, Dschihad, Selbstmordattentate, Gewalt, Ehrenmord, Zwangsehen, Kopftuch, Sprachprobleme der türkischen Kinder, Integration usw. Diese Themen werden – wie oben ja bereits angesprochen – immer wieder gern von Pseudo-Experten vorgegeben. Der Ablauf der meisten Dialoggespräche wird einerseits bestimmt durch ganz spezielle, eigens ausgewählte Themenbereiche, andererseits aber leider auch durch Rechtfertigungs- und Selbstverteidigungsbemühungen seitens der Muslime. Permanente zum Teil völlig unbegründete Schuldzuweisungen an die Adresse der Muslime und eine überwiegend negative Darstellung des Islams in den Medien haben dazu geführt, dass die Mehrheit der Deutschen heute noch weniger konkrete und korrekte Erkenntnisse über den Islam in seiner Eigenschaft als Religion und über die muslimische Kultur besitzt als noch vor einigen Jahren.

Ein wesentliches Problem liegt meines Erachtens in der (mangelnden) Bereitschaft zum Dialog und im guten Willen zur Wahrnehmung des „Anderen“. Dafür braucht es persönliche Kontakte und regelmäßige Treffen zu verschiedenen Anlässen, was ich vermisse. Solange wir z.B. unsere nachbarschaftlichen Beziehungen nicht pflegen und uns nicht gegenseitig besuchen bzw. einladen, werden wir keinen Schritt weiter kommen. Interreligiöse und -kulturelle Dialoggespräche können die Wahrnehmungsfähigkeit gegenüber Menschen aus anderen Kulturkreisen schärfen. Regelmäßige familiäre Besuche und Unterhaltungsgespräche tragen entscheidend dazu bei, sich näher kennen zu lernen und sich ein umfassendes Bild über die Mentalität und den kulturellen Hintergrund der Partner zu machen. Persönliche Kontakte, falls nicht vorhanden, lassen sich sehr gut etwa auf Kulturabenden und Dialogveranstaltungen knüpfen. Solche Veranstaltungen oder Fortbildungen vermitteln einen Einstieg ins Thema und zeigen auch durchaus einige wichtige Perspektiven auf. Wirklich ertragsreiche Begegnungen finden aber erst in einer häuslichen oder familiären Atmosphäre statt. Auch Reinhard Höppner, der Kirchentagspräsident der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) unterstreicht die Bedeutung eines vorurteilsfreien Dialogs mit folgenden Worten: „Ein Schlüssel zur Lösung der Schwierigkeiten liegt im gegenseitigen gründlicheren Kennenlernen.“ Umso fragwürdiger und weniger nachvollziehbar erscheint mir die zwischenzeitliche Belastung des Dialogs zwischen Islam und EKD.

Was können und dürfen wir also von „offiziellen“ Begegnungen erwarten? Dialoggespräche sollten zunächst einmal themenorientiert sein. Werden sie auf institutioneller Ebene geführt, lassen sich meistens nicht alle Fragen an einem Abend beantworten. Die Unwissenheit übereinander bedingt, dass man ganz unterschiedliche Dinge am liebsten in knappen Sätzen erfahren möchte. Vorurteile und Klischees völlig zu beseitigen, funktioniert jedoch nicht von heute auf morgen. Der Dialog kann aber durchaus eine Saat des guten Willens säen. Außerordentlich effektiv in dieser Hinsicht können die Schulen sein. Dort sollte interkulturelle Kompetenz besonders stark gefördert werden.

Was wir dringend brauchen, ist eine vertrauensvolle Dialogbasis, auf der wir nicht (nur) die Probleme, die von Pseudo-Experten auf die Tagesordnung gebracht werden, diskutieren, sondern darüber hinaus in erster Linie über ganz grundsätzliche und den Alltag bestimmende Dinge sprechen, z.B. über Erziehung, Familie, Gewalt, Umwelt, Moral, Wertesysteme, Menschenbild, Sprachprobleme, Sucht, Grundlagen der Religionen, Wesen und Rechtsquellen des Islams usw.

Gegen die Desinformation und den Kulturrassismus einiger Medien sollte sich auf lokaler Ebene eine Gegenbewegung formieren, die in der deutschen Öffentlichkeit positive Impulse setzt. Was wir ebenfalls dringend brauchen, ist Respekt voreinander und Empathie für einander. Und weiterhin eine menschliche Basis, auf der wir andere Menschen in ihrem So-Sein akzeptieren und Fremdartigkeit nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung empfinden können. Fakt ist, dass Muslime oder Türken heute und schon seit langem wichtige Teile und zugleich Stützen der deutschen Gesellschaft sind. Dennoch werden sie seit 50 Jahren zwar irgendwie wahrgenommen, aber leider immer noch als fremd empfunden. Fakt ist auch, dass Deutschland und die Deutschen seit nunmehr 500 Jahren vom Kulturgut dieser „anderen Kultur“ profitieren. Wenn diesen Menschen nun Feindseligkeiten, Beleidigungen und kulturelle Ignoranz entgegenschlagen, dann trägt das nicht zu einem friedlichen Zusammenleben bei, sondern muss, ganz im Gegenteil, zwangsläufig zu einer Polarisierung der Gesellschaft führen.

Die Alternative lautet also, sich um einen aufrichtigen und offenen Dialog zu bemühen. Dieser sollte ein Ziel haben, das alle Beteiligten vor Augen haben: das friedliche Miteinander von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Religionen zu fördern. Ein solcher Dialog wird von Herzen kommen und nicht aus formalen Gründen oder aus beruflichen Erwägungen heraus geführt werden. Er wird auch nicht auf irgendeinen zeitlichen oder örtlichen Rahmen begrenzt sein, sondern sich auf alle gesellschaftlichen Ebenen erstrecken. Natürlich sind die Muslime oder Türken dazu aufgefordert, in dieser Hinsicht Initiative zu entwickeln. Was sie bis jetzt daran gehindert hat, ist unter anderem ihr Sprachproblem und eine verzerrte Wahrnehmung der deutschen Mentalität. Vielen Muslimen ist noch immer nicht bewusst, in welcher Gesellschaft sie eigentlich leben und mit welchen gesellschaftlichen Herausforderungen sie sich auseinandersetzen müssen. Andererseits fordert ihre Religion sie aber dazu auf, stets nach dem Wohlgefallen Gottes zu streben. Und ein ehrliches, von Herzen kommendes Bemühen um Dialog wird ohne jeden Zweifel Seine Zustimmung finden. In diesem Sinne sollten sie sämtliche weltlichen oder materiellen Erwartungen zurückstellen und möglichst unvoreingenommen auf die deutsche Öffentlichkeit zugehen. Aber es gibt noch einen weiteren Grund dafür, dass die Muslime oder Türken dem Dialog zunehmend positiv gegenüberstehen. Viele von ihnen sind es nämlich leid, sich immer wieder von Außenstehenden (auch hier wieder: von Pseudo-Experten) sagen zu lassen, wer sie sind und was sie tun. Daher ist es ihnen ein dringendes Bedürfnis, sich selbst darzustellen und sich als Individuen wie auch als Gruppe zu definieren.

Ihre deutschen Partner sollten sich unbedingt bewusst machen, dass der Dialog mit anderen in Deutschland lebenden Kulturen und Religionen auch über die Zukunft ihrer Gesellschaft und ihrer Kinder entscheiden wird. Im Idealfall werden sie sich dem christlichen Konzept der Nächstenliebe verpflichtet fühlen und dieses auf den Dialog auf institutioneller Ebene übertragen. Wenn man einander dort wirklich offen, ehrlich und neugierig begegnet, dann wird man kurze Zeit später auch auf persönlicher Ebene Freundschaften schließen. Davon bin ich überzeugt. Einem Ausspruch des Propheten Muhammad zufolge sind ein gemeinsames Essen oder eine Reise, die man gemeinsam unternimmt, hervorragende Gelegenheiten, um sich besser kennen zu lernen. Eine Studienreise in die Türkei etwa kann beiden Seiten vor Augen führen, wie vielseitig und fruchtbar der Dialog sein kann. Die Devise muss also lauten: Nicht nur reden, sondern auch handeln.

Ein offener und ehrlicher Dialog wird der negativen Konstruktion des Fremden entgegenwirken und die interkulturelle Kompetenz der Menschen auf individueller Ebene fördern. Aber wir werden uns an den Gedanken gewöhnen müssen, dass Fortschritte nicht von heute auf morgen zu erzielen sind. Grundsätzlich ist es ebenso wünschenswert wie zwingend notwendig, die Kommunikation zwischen den Kulturen in Gang zu setzen und zu stärken. Da die jeweils „andere Seite“ heute nicht selten als „fremd“ dargestellt und deshalb als böse oder zumindest als bedrohlich wahrgenommen wird, ist aller Anfang naturgemäß schwer. Hoffnung macht, dass in der Geschichte ein Geben und Nehmen zwischen den Kulturen eher die Regel als eine Ausnahme darstellt. Bei Türken und Deutschen ließen sich beispielsweise die deutsche Pünktlichkeit bzw. die türkische Gastfreundlichkeit anführen. In jeder Kultur gibt es eine Reihe positiver Dinge, die man sich durchaus selbst gern aneignen möchte.

Andererseits sollte man sich keine Illusionen machen – gewaltsame Konflikte der Kulturen, wie wir sie in der Vergangenheit mehrmals erlebt haben, könnten heute den Untergang der ganzen Menschheit herbeiführen. Also bleibt uns gar keine andere Wahl, als Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Eine dieser Lehren lautet: Der Dialog zwischen den Anhängern der verschiedenen Religionen und Kulturen ist unverzichtbar. Er erlaubt den Menschen, einander näher kennen zu lernen, und ermöglicht ein friedliches Miteinander auf einer menschlichen Basis. Gerade die schlechten Erfahrungen, die in der Vergangenheit mit dem negativen Umgang mit anderen Kulturen und Religionen gemacht wurden, sollten uns genug Anreiz geben, das Miteinander zu suchen.

Letzte Aktualisierung: 7. Januar 2017
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