Kolumnen Sprache

Der steinige Weg zur Mehrsprachigkeit

Muhammet Mertek

Die Bereiche Sprache, Kultur, Identitätsbildung, Integration und Sozialisierung sind für fast alle türkischen Kinder in Europa Problemfelder. Diese Problemfelder möchte ich in meinem Beitrag hier analysieren und mögliche Lösungswege aufzeigen. Dabei ist es jedoch kaum möglich, die einzelnen Bereiche voneinander zu trennen. Sie weisen eine komplizierte und unübersichtliche Struktur auf und gehen ineinander über. Die Grundbedingungen, unter denen türkische Kinder in Europa aufwachsen, sind annähernd gleich. Als Ausgangspunkt meiner Betrachtung sollen aber die türkischen Kinder in Deutschland dienen.

Das wichtigste Hindernis einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung und Sozialisierung bei Migrantenkindern ist das Sprachproblem, doch was heißt hier eigentlich Problem? Im Grunde genommen müsste man doch eigentlich davon ausgehen, dass Migrantenkinder gegenüber deutschen Kindern einen „Startvorteil“ besitzen: Sie haben die Chance, zwei Sprachen zu erlernen und in der Praxis zu sprechen. Ihre Mehrsprachigkeit sollte – so würde man meinen – ihre Persönlichkeitsentwicklung doch eher fördern, anstatt behindern. Was also geht schief?

Mehrsprachigkeit

Sprachwissenschaftler, die über Mehrsprachigkeit forschen, vertreten die Meinung, diese sei als Regelfall einzustufen, Einsprachigkeit hingegen als Ausnahme. Warum? Ganz einfach deshalb, weil die Zahl der mehrsprachigen Menschen auf der Welt die der Einsprachigen übertrifft. Diese mehrsprachigen Menschen lassen sich definieren als Menschen, die zwei unterschiedliche Sprachen sprechen, ohne sie miteinander zu vermischen, und ihre Gefühle und Gedanken in beiden Sprachen mehr oder weniger gut artikulieren können. Die Forschung unterscheidet zwischen natürlicher und künstlicher Mehrsprachigkeit. Natürlich mehrsprachig ist man, wenn man die unterschiedlichen Sprachen bis zum sechsten oder siebten Lebensjahr erlernt hat. Erlernt man sie jedoch erst später, so spricht man von künstlicher Mehrsprachigkeit. Dies ist aber natürlich nicht negativ gemeint, denn wenn man auf der höheren Schule beispielsweise neben Türkisch und Deutsch auch noch Englisch, Latein, Spanisch oder Italienisch lernt, so verschafft man sich mit Sicherheit ein gesundes und solides geistiges Fundament.

Auch mehrsprachige Menschen beherrschen üblicherweise eine Sprache besser als die andere(n). Vermutungen zur Folge die Muttersprache. In vielen Gesellschaften mit unterschiedlichen Sprachen ist die Schulsprache im Regelfall nicht die Muttersprache, sondern die offizielle Landessprache. Das trifft auch auf Deutschland und die türkischen Kinder zu. Sie wachsen außer mit ihrer Muttersprache auch mit der deutschen Sprache auf. In der Schule wird deutsch gesprochen, und das allgemeine kulturelle Leben spielt sich auf Deutsch ab. Folglich sollte das Sprachgefühl in dieser Sprache ausgeprägter sein als in der Muttersprache, zumal sie mit dieser Sprache auch schreiben lernen. Die Schriftsprache vermittelt ihnen neben den Sprachregeln auch einen breiteren Wortschatz.

So weit die Theorie.

In der Praxis jedoch sind viele türkische Kinder „doppelt halbsprachig“. Das heißt, sie beherrschen weder ihre Muttersprache noch die deutsche Sprache ausreichend. Überall – zuhause, in der Schule, im Bus, auf der Straße – benutzen sie eine Mischsprache. So etwas wie ein „Sprachenbewusstsein“ hat sich bis heute leider weder bei den Kindern noch in den Familien entwickelt. Bedauerlicherweise wird die Bedeutung der Sprache(n) völlig unterschätzt. Ein durchschnittliches türkisches Kind spricht innerhalb der Familie bis zum Kindergarteneintritt nur türkisch. Die ganze Erziehung der Kinder wird bis zu diesem Punkt allein in türkischer Sprache geleistet. Umso wichtiger wäre es deshalb, dass diese Kinder dann in ihrer Vorschulzeit intensiv auch in der deutschen Sprache unterrichtet werden. Anderenfalls nimmt man in Kauf, dass sich, wie besonders in den letzten Jahren festzustellen war, immer mehr Migrantenkinder mit erheblichen Sprachdefiziten an den Grundschulen anmelden.

In diesem Zusammenhang wäre es falsch, das Deutsche und das Türkische als miteinander konkurrierende Sprachen wahrzunehmen. Beide Sprachen sind aus unterschiedlichen Perspektiven gleich wichtig, und die Kinder sind durchaus in der Lage, beide Sprachen parallel zu erlernen Das Problem ist nur: Viele türkische Eltern neigen dazu zu sagen, ihre Kinder müssen zunächst ausschließlich die türkische Sprache erlernen, um den Kontakt zu ihren Wurzeln nicht zu verlieren. Andere wiederum befürchten, ein Erlernen der Muttersprache könnte ihre Kinder davon abhalten, Deutsch zu lernen. Die Eltern von Migrantenkindern sollten sich in jedem Fall der Tatsache bewusst sein, dass die deutsche Sprache, unabhängig von der Bedeutung der Muttersprache, die wesentliche Sprache ihrer Kinder sein wird. Dies ist ein Faktum. Die deutsche Sprache entscheidet über die Zukunft der Kinder, die hier in Deutschland leben. Deutsche und türkische Kinder werden im schulischen Alltag mit den gleichen Maßstäben gemessen. Um auch später im Berufsleben weiterkommen zu können, müssen die Migrantenkinder also die deutsche Sprache beherrschen. Andererseits ist aber die Muttersprache von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Vor dem Besuch eines Kindergartens sollte sie so intensiv wie möglich gefördert werden, um den Kindern eine widerstandsfähige Sprachbasis zu schaffen. Dabei sollte man unbedingt versuchen darauf zu achten, dass man die Entwicklung einer Misch-Masch-Sprache so weit wie möglich vermeidet.

Misch-Masch-Sprache

Ganz im Gegensatz zur Mehrsprachigkeit stellt die Misch-Masch-Sprache ein Sprachdefizit dar, das in gewissem Maße auch die geistige Entwicklung der Migrantenkinder behindern kann. Die meisten der betroffenen Kinder sind nicht in der Lage, ihre Gefühle und Gedanken in einer Sprache zum Ausdruck zu bringen. Bei der Darstellung eines Sachverhalts oder der eigenen Meinung fallen sie schnell in eine gemischte Sprache, weil es ihnen am entsprechenden Wortschatz mangelt.

Die von türkischen Kindern entwickelte Misch-Masch-Sprache ist für einen nicht deutsch sprechenden Türken ebenso schwer zu verstehen wie für einen nicht türkisch sprechenden Deutschen. Man muss schon beider Sprachen mächtig sein. Hier einige Beispiele:

Yarın kinoya gidek mi? Beraber film gucken yaparız. Hem ben popcorn da alçam, wenn du willst ben sana da alırım. Hadi yaa gel, Alter!

Unterrichte çok laut oluyor. Öğretmen bana ärgern yapıyor. Numaramı löschen yaptım.

Sizin Zimmernizin balkonu var mı?

Etuimi fachımda unuttum. Heftimi getirmedim.

Den deutschen Wörtern werden einfach türkische Endungen angefügt. In einen türkischen Satz werden deutsche Verben eingesetzt, und umgekehrt. Oder der Satz besteht zur Hälfte aus türkischen und zur Hälfte aus deutschen Wörtern, geradeso als sei hier eine neue Zwittersprache geboren worden – eine Zwittersprache, die uns jederzeit und überall begegnet, die leider aber die Emotionen und Gedanken abstumpfen lässt. Und wenn Menschen sich nur unzureichend ausdrücken können, dann spiegelt sich das zwangsläufig auch in ihrem Verhalten wider.

Wie kann man dem entgegenwirken? Ein sicheres Fundament in einer Sprache erleichtert das Erlernen einer zweiten Sprache – egal welcher Sprache. Sehr gute Türkischkenntnisse in den ersten Lebensjahren kommen also auch ebenso guten Deutschkenntnissen ab dem Kindergartenalter zu Gute. Jedoch muss darauf geachtet werden, dass ab diesem Zeitpunkt die Bilingualität bewusst gefördert wird. Wichtig ist es, keine der beiden Sprachen zu vernachlässigen. Werden beide bewusst gefördert, so werden unsere Kinder mit Sicherheit davon profitieren. Statt einer Misch-Masch-Sprache entwickelt sich dann vielleicht eine echte Mehrsprachigkeit, die gerade in unserer globalisierten Welt eine wichtige Chance darstellt und das Tor zu einer guten schulischen und beruflichen Ausbildung weit öffnet.

Kinder, die bis zu ihrem dritten Alter ausschließlich Türkisch sprechen, sollten – wie bereits erwähnt – im Kindergarten die deutsche Sprache erlernen. Bis zu ihrem sechsten Lebensjahr sollten die Kinder ein altersgerechtes Niveau in beiden Sprachen erreichen. Wenn darauf geachtet würde, dass die Kinder bis zu ihrem dritten, vierten Lebensjahr türkisch und bis zu ihrem sechsten Lebensjahr deutsch lernen (und dabei ein ähnliches Niveau erreichen wie ihre deutschen Schulkameraden), dann könnten viele Sprachprobleme behoben werden. Die Gehirnforschung kommt außerdem zu dem Ergebnis, dass Kinder, die bis zum sechsten Lebensjahr zwei Sprachen erlernt haben, auch eine dritte Sprache bequemer erlernen, weil sie dafür einen kleineren Teil ihres Gehirns nutzen müssen. Andererseits neigen Kinder, die mit dem zehnten Lebensjahr weder die eine noch die andere Sprache richtig beherrschen, offenbar zu einer Misch-Masch-Sprache.

Fassen wir also noch einmal kurz zusammen: Während die Ausprägung und Verwendung einer Misch-Masch-Sprache die geistige Entwicklung von Kindern hemmt, kommt eine Mehrsprachigkeit ihnen gerade in der globalisierten Gesellschaft von heute sehr zugute. Sie erleichtert ihnen den Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen ungemein und erweitert ihren Horizont. Sie fördert ihre Persönlichkeitsentwicklung in jeder Hinsicht. Die Eltern müssen das erkennen, schließlich liegt es von Anfang an vor allem in ihren Händen, ihren Kindern den Weg zur Mehrsprachigkeit zu ebnen.

Sind mangelnde Sprachkenntnisse ein Indiz für Integrationsunwilligkeit?

Dem türkischen Soziologen Ali Bulac zufolge ist die Sprache nicht nur ein Kommunikationsmittel, sondern zugleich eine Denkweise, eine Weltanschauung. Sie ermöglicht uns zu erfassen, worin Sinn und Zweck unseres Lebens bestehen und wie wir dieses Leben am besten gestalten. Jede Sprache besitzt ihre eigenen Schlüsselbegriffe, Vorlieben und Paradigmen. In jeder Sprache spiegeln sich auch politische Haltungen, strategische Überlegungen, wirtschaftliche Interessen und globale Hegemonien wider.

Die türkische Sprache befindet sich zurzeit stark im Aufschwung. Manche sind sogar der Auffassung, sie sei auf dem besten Wege zu einer künftigen Weltsprache. Parallel dazu muss sich aber auch das Türkisch der Türken in Deutschland und Europa weiterentwickeln. Doch wie soll das geschehen? Auf der einen Seite verwendet die türkische Community eine sehr beschränkte Sprache, deren Wortschatz 200-300 Wörter nicht übersteigt, auf der anderen Seite wird die türkische Sprache in den Ländern, in denen die Türken leben, als ein Integrationshindernis wahrgenommen. Wenn türkische Muttersprachler türkisches Fernsehen verfolgen und Kinder in den Schulen Türkisch sprechen, dann sehen sie sich schweren Diskriminierungen ausgesetzt und werden schnell als integrationsunfähig abgestempelt. Die Logik lautet: Wer kein Deutsch spricht, will keine Integration, nur wer Deutsch spricht, ist integrationswillig. Das jedoch ist völlig falsch. Nur einmal angenommen, es würde stimmen: Warum hegen dann viele türkische Jugendliche, die die deutsche Sprache so gut wie ihre Muttersprache beherrschen und ständig mit Deutschen in Kontakt sind, trotzdem Antipathien gegen Deutsche? Wieso unterstützen sie bei einem deutschen Länderspiel die gegnerische Mannschaft und hoffen auf eine Niederlage der Deutschen? Diese Beispiele sollten deutlich machen, dass mehr als die Sprache die gegenseitige Beeinflussung, Wahrnehmung und Akzeptanz eine entscheidende Rolle spielen.

Ich empfehle türkischen Eltern und Kindern bei jeder Gelegenheit, die deutsche Sprache (oder allgemeiner: die Sprache des Landes, in der man lebt) als die entscheidende Sprache zu betrachten. Allerdings sollte die deutsche Öffentlichkeit vorsichtig sein und keinen Druck ausüben: Wenn man sagt, „Hier ist Deutschland, sprich kein Türkisch“, wird man wahrscheinlich nur das Gegenteil erreichen. Wenn sich jemand in New York, London oder Istanbul vor den Ohren anderer Menschen in einer fremden Sprache unterhält, zieht er keine Aufmerksamkeit auf sich und erntet keine schiefen Blicke. In Deutschland hingegen glaubt man als Nichtdeutscher in diesem Fall oft Unmut zu verspüren und hat das Gefühl, „sie lästern wohl über mich“. Im Grunde sind solche Empfindlichkeiten aber völlig überflüssig. Es bringt ganz einfach nichts, „Fremdem“ mit Argwohn zu begegnen. Niemand kann Menschen verbieten, ihre eigene Sprache zu sprechen. Bessere deutsche Sprachkenntnisse lassen sich nicht dadurch erzielen, dass man das Türkische ächtet. Eine solche Haltung und Vorgehensweise wird mit Sicherheit nicht die Zustimmung der türkischen Eltern und Kinder finden und stattdessen nur Widerstand provozieren.

Wenn türkische Kinder Türkisch lernen und sprechen, dann sollte das gutgeheißen werden. Denn erst ein Mensch, der seiner Muttersprache mächtig ist und mit seinen kulturellen Werten im Einklang lebt, wird der Gesellschaft von Nutzen sein und sich auch an sie anpassen können. Ganz anders die „doppelt halbsprachigen Jugendlichen“, die eine türkisch-deutsche Mischsprache sprechen. Sie leiden unter ihrer mangelnden Artikulationsfähigkeit, werden unzufrieden und bereiten sich selbst und der Gesellschaft Probleme.

Darum gilt es, den türkischen Kindern zuerst ihre Muttersprache und ihre traditionellen kulturellen Werte zu vermitteln, damit sie sich zu Persönlichkeiten entwickeln können, die allen Menschen offenherzig entgegentreten. Ob die bestehenden Probleme letztlich zu bewältigen sind – von den Kindern, ihren Eltern und der Gesellschaft -, wird erst die Zukunft zeigen.

Die Fontäne, Nr. 39, 2008

Letzte Aktualisierung: 7. Januar 2017
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