Erziehung & Bildung Kolumnen

Der erste Medizin-Ethiker der Welt: Ar-Ruhawi

Muslimische Persönlichkeiten haben überaus wichtige Beiträge zur Geschichte der Wissenschaft geleistet. Zu ihnen zählt ohne jeden Zweifel auch Ishaq Ali Ar-Ruhawi, der im 13. Jahrhundert lebte und derzeit wiederentdeckt wird. Ar-Ruhawi, ein in Urfa (in der heutigen Türkei) lebender Ethiker, verfasste das Werk Adab at-Tabib (Die Ethik des Arztes). Dieses Buch enthält unter anderem bedeutende Kommentare zum Verhältnis zwischen Arzt und Patient. Es gilt als das erste Werk weltweit zum Thema Ethik in der Medizin. Besonders intensiv darüber geforscht hat Dr. Şahin Aksoy von der Universität Harran (Urfa, Türkei). Er schreibt:

Urfa, einst auch bekannt unter den Namen Edessa oder Ruha, war in der Geschichte schon immer ein wichtiges Zentrum der Wissenschaft. Bereits im 5. Jahrhundert wurde in der Stadt eine Übersetzerschule gegründet. Dort übertrug man zunächst Werke aus dem Griechischen, bevor man einige Zeit später auch eigens verfasste Werke herausgab. Zu letzteren gehört das Adab at-Tabib von Ar-Ruhawi.

Über diesen Gelehrten, dessen Nachname Ar-Ruhawi so viel bedeutet wie ‘Der aus Urfa Stammende‘, ist nur wenig bekannt. Nicht einmal in der 10.000-seitigen Enzyklopädie der Wissenschaftsgeschichte von Helaine Selin ist von ihm die Rede.

Ar-Ruhawi soll gegen Ende des 9. und Anfang des 10. Jahrhunderts gelebt haben. Auf seine Spur führt uns das Buch Kitab Uyun al-Anba’ fi Tabaqat al-Attiba’(Das Buch über die Quellen des Wissens unter den Ärzten) von Ibn Abi Uschaybiya (1203-1270). Weitere Erkenntnisse liefert uns die Schrift Die syrischen Ärzte während der Herrschaft der Abbasiden von August Müller aus dem Jahr 1884. Und auch in einigen späteren wissenschaftlichen Werken stoßen wir auf den Namen Ar-Ruhawi.

Trotzdem gelingt es nur langsam, aus diesen Teilen ein Puzzle zusammenzusetzen, das Ar-Ruhawi wirklich gerecht wird. Die besagte Ethik des Arztes, zweifellos das bedeutendste Werk dieses Mediziners, wurde 1966 von Martin Levey unter dem Titel Practical Ethics of a Physician ins Englische übersetzt. Der jüdisch-stämmige Levey schreibt in einem Aufsatz, Ar-Ruhawi sei ein christlicher Gelehrter gewesen, dessen Ideen dem islamischen Glauben sehr nahestanden. Ein anderer Wissenschaftler wiederum sah in Ar-Ruhawi einen jüdischen Gelehrten; ich hingegen gehe davon aus, dass er in Wahrheit Muslim war. Im Grunde aber spielt es keine Rolle, welcher Religion Ar-Ruhawi angehörte. Viel wichtiger ist, dass seine medizinischen Werke die Wissenschaft seiner Zeit und der kommenden Generationen einen großen Schritt voranbrachten.

Schon vor dem Verfassen seiner Ethik des Arztes hatte Ar-Ruhawi sämtliche ins Arabische und Aramäische übersetzten Bücher zum Thema Medizin gelesen. Sein Werk war dann eine Synthese, die zum einen den Wissensstand der damaligen Zeit repräsentierte, diesen aber dann anhand von eigenen Kommentaren entscheidend weiterentwickelte.

Dabei bezog sich Ar-Ruhawi insbesondere auf Aristoteles’ Metaphysik, Platons Über die Seele und auf Werke von Hippokrates und Galen. Weiterhin werden in der Ethik des Arztes Pythagoras, Epikur, Demokrit, Al-Kindi und Hunayn ibn Ishaq erwähnt. Im Kern zielt Ar-Ruhawi’s Buch darauf ab zu zeigen, dass sich die Qualität der Behandlung kranker Menschen durchaus noch verbessern lässt und dass Gott dem Mediziner bei der Behandlung immer zur Seite steht. Es widmet sich der ethischen Grundhaltung von Ärzten, Patienten, Krankenschwestern und Angehörigen der Patienten und geht auch auf die Beziehungen zwischen diesen Gruppen untereinander ein. Es beschäftigt sich sehr ausführlich mit der medizinischen Deontologie[1], und es lässt erst gar keinen Zweifel daran aufkommen, dass Ar-Ruhawi, wie auch andere Gelehrte jener Zeit, sehr angetan war von der griechischen Antike.

Das Buch hat 112 Seiten mit jeweils 17 Zeilen. Das einzige heute noch erhaltene Exemplar befindet sich in der Selimiye-Bibliothek des Kultusministeriums der Türkei. Diese Ausgabe mit der Signatur-Nr. 1658 hatte man seinerzeit Sultan Beyazit gewidmet.

Botschaften des Adab at-Tabib für das 21. Jahrhundert

Die Ethik des Arztes enthält viele damals neue Botschaften, die auch im 21. Jahrhundert noch aktuell sind. Im Einleitungskapitel sowie im ersten Teil des Buches definiert Ar-Ruhawi die ethischen Grundregeln, die für den Beruf des Arztes von primärer Bedeutung sind. Diese Grundregeln werden dann im weiteren Verlauf des Buchs an theoretischen und praktischen Beispielen veranschaulicht. Da Ar-Ruhawi zufolge der Besitz einer guten Moral wertvoller ist als der Besitz von weltlichem Reichtum, sollte jeder Arzt sich stets darum bemühen, ebendiese gute Moral zu verinnerlichen und zu praktizieren. Menschen mit schlechten Charaktereigenschaften sollten dem Arztberuf also besser von vornherein fernbleiben. Desweiteren misst Ar-Ruhawi der Pflege des Körpers einen hohen Stellenwert bei, da dieser die Wohnstätte der Seele ist.

Ar-Ruhawi’s Kenntnisse stammen – bedingt durch seine umfangreichen Recherchen – aus seriösen Quellen. Es handelt sich hier also keineswegs um die Darstellung eines Volksglaubens oder Ähnliches. Die Tatsache, dass Ar-Ruhawi die arabischen, griechischen und aramäisch-sprachigen Werke zu den Themen Medizin, Ethik und Philosophie einer genaueren Analyse unterzogen hat, wird dem aufmerksamen Leser nicht entgehen.

Für Ar-Ruhawi ist die Beziehung von Seele und Körper ausschlaggebend für Gesundheit und Krankheit. Da ein Körper nur dann gesund sein kann, wenn er von einer gesunden Seele bewohnt wird, sollte das Hauptaugenmerk des Arztes der seelischen Gesundheit gelten. Ar-Ruhawi erläutert, wie sich ein Arzt seiner Meinung nach zu verhalten hat. Seine ‚Benimmregeln‘ lesen sich wie folgt: „Ein Arzt sollte stets die Gegenwart von gebildeten und kultivierten Menschen suchen. Ein Arzt sollte gegenüber dem gemeinen Volk immer höflich sein. Er sollte in der Öffentlichkeit stets auf seine Sitzhaltung achten, nicht gähnen und spucken. Wenn er etwas zu sich nimmt, sollte er es als gutes Vorbild gut durchkauen, und er sollte immer ordentlich sein. Auf keinen Fall sollte ein Arzt Alkohol trinken und ebenso wenig uneheliche Beziehungen zu Frauen unterhalten oder sich Glückspielen hingeben. Jeglichem Handeln, das ihn von der Wissenschaft abhält, sollte er den Rücken kehren.“

Auch für die Vermeidung von Missverständnissen zwischen Arzt und Patient bzw. dessen Angehörigen liefert uns Ar-Ruhawi wichtige Regeln: „Was die Pflege und den Genesungsprozess der Kranken betrifft, sollte der Arzt all seine Befunde eigenhändig schriftlich notieren. Diese Aufzeichnungen sollten auch nach der Genesung des Patienten weiter aufbewahrt werden. Für den Fall, dass der Patient stirbt und die Angehörigen den Arzt dafür verantwortlich machen, können sie dann von anderen Ärzten begutachtet werden. Falls festgestellt wird, dass es an Symptomatologie, Diagnose und Behandlung nichts auszusetzen gibt, soll dem Arzt gedankt werden; im gegenteiligen Fall soll veranlasst werden, dass er den Arztberuf nicht länger ausüben darf. Wird jedoch ein vorsätzlicher Fehler gefunden, so soll er mit der Todesstrafe bestraft werden.“

Es mangelt auch nicht an Ratschlägen für die Patienten. Ar-Ruhawi empfiehlt ihnen, vor der Wahl ihres Arztes nicht allein auf dessen Wissen und Können zu achten, sondern auch auf seine Moral. Weiterhin sollte der Patient prüfen, ob der Arzt, den er aufzusuchen gedenkt, seinen Beruf von tugendhaften Menschen erlernt hat, ob er sich um Weiterbildung bemüht, ob er seinen Pflichten gewissenhaft nachkommt und ob er sich von Verbotenem fernhält.

Besuchern von Patienten rät er: „Wer einen Krankenbesuch machen möchte, sollte sich sauber kleiden, wohlriechende Düfte auftragen und nicht lange beim Kranken weilen. Er sollte außerdem stets nur über schöne und hoffnungsvolle Dinge mit dem Kranken reden. Wenn der Besucher kein Mediziner ist, sollte er mit dem behandelnden Arzt auch nicht über die Krankheit des Patienten diskutieren; denn dies könnte den Patienten verunsichern und seine Behandlung negativ beeinflussen.“

Ar-Ruhawi preist die Vorzüge der Medizin und unterstreicht, welch Ehre es ist, den Beruf des Arztes ausüben zu dürfen. Seiner festen Überzeugung nach ist die Gesundheit der bestmögliche Zustand des Individuums. Daher sollte sich der Berufsstand, der mit der Bewahrung oder Wiederherstellung dieses Zustands befasst ist, unbedingt aus den tugendhaftesten und kultiviertesten Menschen einer Gesellschaft rekrutieren. Parallelen zu Platons Der Staat sind nicht von der Hand zu weisen, wenn er sagt: „Gott ließ diesen Beruf auf Erden existieren, da ihn aber nicht jeder erlernen kann, sollte er auch nur von jenen Menschen erlernt werden, die ein geläutertes Herz und einen scharfsinnigen Intellekt besitzen, die das Gute lieben und barmherzig und tugendhaft sind.“ Ar-Ruhawi geht davon aus, dass der Zugang zu dieser Kunst nur Menschen offensteht, die von Gott auserwählt wurden. Einen hippokratischen Eid hält er deshalb für überflüssig. Dieser war zwar im Westen verbreitet, in der islamischen Geschichte der medizinischen Tradition begegnen wir ihm jedoch nicht.[2]

Die Fontäne, Nr. 50, 2010

Literatur

Aksoy, Şahin; ‘Ishaq ibn ‘Ali Al-Ruhawi’s Adab al-Tabib: The First Medical Ethics Book in Islamic Medicine and Its Possible Misinterpretation by Martin Levey’; mündlicher Vortrag, präsentiert auf dem ‘International Congress on the History of Medicine’; İstanbul, 1.-6. September 2002


Anmerkungen

[1] Die medizinische Deontologie ist die Lehre von den moralischen und sozialen Dimensionen der Pflichten des Arztberufes.
[2] Als Grundlage für diesen Artikel dienten mir die Forschungen von Dr. Şahin Aksoy, Universität Harran, über Ar-Ruhawis Werk Adab at-Tabib.
Letzte Aktualisierung: 7. Januar 2017
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