Gesellschaft Kolumnen

Anatolien in Europa

Schon immer galt Anatolien (Kleinasien) als die Brücke zwischen Ost und West, zwischen Asien und Europa. Anatolien, die Heimstatt zahlreicher Zivilisationen, hat sich in der Geschichte nie als von Europa getrennt betrachtet. Aus anatolischer Perspektive bildete Europa einst die äußerste Grenze der bekannten Welt. Und irgendwann kam der Tag, an dem Anatolien die Grenzen überschritt und „sein großes Prunkzelt“ in der Mitte Europas aufbaute: Vor etwa einem halben Jahrhundert zogen Junggesellen aus Anatolien aus wirtschaftlichen Gründen in die Industriegebiete Europas und betätigten sich dort als Gastarbeiter.

Das Abenteuer, das mit der Migration der Arbeiter begann, führte schließlich zu einem Punkt, den sich die ersten Migranten wohl in ihren kühnsten Träumen nicht hätten vorstellen können: Denn nun endlich beginnt man auch auf europäischer Seite zu verstehen, dass diejenigen, die man vor langer Zeit selbst gerufen hat, nicht nur Arbeiter waren, sondern Menschen sind, Menschen mit einer eigenen – anatolischen – Kultur.

Die sozioökonomischen Bedingungen, die die Anatolier in Deutschland vorfanden, machten das Land zur ersten Adresse. In 45 Jahren Migration kamen drei Generationen, und mit der Zeit tendierten die Gastarbeiter dazu, sesshaft zu werden. Ist die Annahme der deutschen Staatsangehörigkeit durch etwa 800.000 Türkischstämmige nicht der stärkste Beweis dafür, dass sie sich als Einheimische wahrnehmen? 66.000 türkischstämmige Selbstständige haben ca. 350.000 Arbeitsplätze geschaffen. Sie zahlen jährlich mehrere Milliarden Euro Steuern in die Staatskassen. 500.000 Schüler türkischer Herkunft besuchen die Schulen. Auch das zeigt, dass die Türken inzwischen zu einem festen Bestandteil dieser Gesellschaft geworden sind. Die meisten von ihnen werden für immer hier in Deutschland bleiben, weil sie sich hier im Lande eine Existenz aufgebaut haben. Was ihre ökonomischen Erträge betrifft oder ihren Besitz von Immobilien und Grundstücken, so sind die Anatolier längst zu einem untrennbaren Teil der europäischen Gesellschaften geworden. Hunderttausende von ihnen haben mittlerweile Immobilien in Deutschland erworben, ohne dass jemand deswegen behauptet, das Land werde an die „Ausländer“ ausverkauft. Anders sieht es aus in den Bereichen Kultur und Sprache, wo man ihnen nach wie vor mit Zurückhaltung und Skepsis begegnet. Historisch bedingte unbegründete Ängste, die Verschlossenheit der europäischen Gesellschaften gegenüber den Türken und die Ablehnung beider Seiten, sich mit der anderen Seite zu vereinen und eine neue Identität zu entwickeln, spielen in diesem Zusammenhang wohl eine wichtige Rolle.

Inzwischen sind sämtliche Facetten Anatoliens auch in Europa anzutreffen; denn die Menschen, die hierhin kamen, stammten aus völlig unterschiedlichen anatolischen Regionen und Schichten. Das Bildungsniveau der ersten Generation indes war meist gering. Die ersten türkischen „Gastarbeiter“ in Deutschland hatten noch kaum eine Vorstellung davon, was eine Demokratie überhaupt ist. Viele von ihnen hatten in ihrem bisherigen Leben noch nie eine Schwerindustrie, geschweige denn eine Autofabrik gesehen. Und auch der erste Kontakt mit einem Sozialstaat erfolgte erst in Deutschland: Ungeachtet möglicher sozialer Unterschiede konnten sie sich frei von einem Arzt ihrer Wahl behandeln lassen. Und in den staatlichen Ämtern begegneten ihnen anstelle der gewohnt arrogant-mürrischen „Staatsdiener“ nun Menschen, die sie fragten, „Was kann ich für Sie tun?“.

Wir sollten wohlwollend und anerkennend von dieser ersten Generation sprechen. Sie lebte in Harmonie mit den gastgebenden Gesellschaften und betrachtete es als ihre Pflicht, den nachfolgenden Generationen den Weg zu ebnen. Sie arbeitete hart, aber ihr besonderes Bemühen galt der Bewahrung ihres kulturellen Erbes, das im Westen verloren zu gehen drohte. Besonnen und aufopferungsvoll bauten sie Institutionen auf, die ihnen halfen, ihre Identität zu schützen. Im Heimatland der türkischen „Gastarbeiter“ herrschten damals schwierige Zeiten. Das Land, in das sie emigrierten, bot ihnen im Gegenzug die Möglichkeit, ihr Leben zu verwirklichen, nämlich durch Brot, Arbeit, Weib und „Esel“ (Auto). In der Vielzahl der Vereine, die sie gründeten, fanden sich Nischen für buchstäblich jede Gruppe der türkischen Bevölkerung. Um den islamischen Glauben praktizieren können, wurden zahlreiche Moscheen eröffnet. Auch heute werden in etlichen Städten noch neue Moscheen sogar mit Minaretten errichtet oder wurden bereits fertiggestellt.

Den kulturellen Boden, den die erste Generation durch ihre Opfer bereitet hatte, bestellte dann die zweite Generation. Sie trotzte allen Sorgen, allem Leid und den nicht enden wollenden Strapazen. Sie zeichnete sich dadurch aus, dass sie in den kalten Ländern das warme Gesicht Anatoliens zu zeigen versuchte. Ihre Erfahrungen waren zum Teil tragisch und dramatisch, doch hat auch sie sich nie aufgegeben.

Von den Europäern wurden auch diese Menschen noch immer kaum verstanden. Wie denn auch, prallten hier doch nach wie vor völlig verschiedene Welten aufeinander: Kultur, Sprache, Religion, Empfinden und Fühlen, ja sogar Geschmack und Humor – in allem unterschied man sich. Einige wenige von ihnen kappten alle Bindungen zu ihrer Heimat. Aber auch sie wurden nicht mit offenen Armen aufgenommen. Man betrachtete die Anatolier als eine separate Gemeinschaft, bis auf Weiteres ausgeschlossen und nicht gewollt. Doch eine solche Behandlung hatten sie keinesfalls verdient. Denn was hatten sie schon von ihren ‚Gastgebern‘ verlangt? Ein wenig Menschlichkeit, sonst nichts.

Und so häuften sich die Probleme, und sind auch von der dritten Generation nur mit größter Anstrengung zu bewältigen; auf sozialer, kultureller und sprachlicher Ebene, vor allem aber in puncto Ausgrenzung. Nicht nur den Anatoliern selbst, auch ihrer Muttersprache Türkisch, die einst von so vielen Kulturen genährt wurde, blutet in Europa das Herz. Mit den Menschen wird auch ihre Sprache ausgegrenzt. Und das, obwohl das Türkische eine sehr reiche Sprache ist, der es in der Geschichte immer wieder gelungen ist, Nationen und Menschen aus verschiedenen Kulturen zusammenzuschweißen. Im Zuge der Migration hielt das Türkische auch in Europa Einzug. In Deutschland beispielsweise ist es inzwischen die am zweithäufigsten gesprochene Sprache. Selbstverständlich vermag sich eine Sprache nur dann richtig zu entfalten, wenn sie gesprochen wird, wenn sie in Literatur umgesetzt wird. Doch die Chancen dafür stehen gut. Schaut man sich die kulturelle Entwicklung der türkischen Bevölkerung an – ca. 5 Millionen türkischstämmige Menschen leben derzeit in Europa, Tendenz steigend -, dann kann kaum Zweifel daran bestehen, dass das Ansehen der türkischen Sprache und ihre Nachfrage in der Zukunft noch steigen werden. Doch wie dem auch sei, die Hauptsache ist, dass sich die nun heranwachsende Generation der Macht von Sprache und Wort bewusst wird. Hoffnungsschimmer zeichnen sich bereits am Horizont ab, doch noch haben unsere Intellektuellen und Literaten nicht genug an ihren Worten gefeilt. Man darf vorsichtig optimistisch sein, dass den Türken in der Zukunft besser zugehört wird und dass sie höhere Wertschätzung erfahren werden als in der Vergangenheit.

Die anatolische Bevölkerung in Europa hat sich immer dafür eingesetzt, dass sich die europäischen Länder entwickeln, und sie tut dies auch nach wie vor. Sie produziert, bezahlt ihre Steuern und versucht, harmonisch und einträchtig in der Gesellschaft zu leben; sieht man einmal von einigen Randgruppen ab, die es aber in allen Teilen der Gesellschaft gibt. Sie will nur das Beste für diese Länder, auch wenn das so nicht wahrgenommen wird. Ganz gewiss werden sie sich weder der deutschen Gesellschaft verweigern noch der deutschen Sprache. Und doch werden sie den Zusammenhalt als Gemeinschaft mit einer anatolischen Seele nie verlieren. Niemand kann ernsthaft von ihnen verlangen, diese Bindung preiszugeben. Dass sich die Seele dieser Menschen von ihren Wurzeln entfernt, darf außerdem kein Ziel sein. Denn identitätslose und ihrer kulturellen Werte beraubte Menschen stärken nicht die Solidarität der Völker untereinander, sondern beschleunigen die Degeneration der gesamten Gesellschaft. Niemand hat Grund, sich vor der Muttersprache der Türken und ihrer Liebe zu Anatolien fürchten. Das beweist schon ein Blick in die Geschichte. Europäische Reisende des 18./19. Jahrhunderts konnten sich im Osmanischen Reich ein Bild davon machen, welch integrative, schöne und harmonische Sprache das Türkische ist und welchen Stellenwert es für das kulturelle Leben besitzt. Ist die Geschichte denn nicht das schönste Zeugnis?

Auch mein Vater kam 1970 als „Gastarbeiter“ nach Deutschland. Als ehemaliger Bergmann führt er mittlerweile ein Rentnerleben. Wie so viele Mitglieder der ersten Generation verbringen meine Eltern die eine Hälfte des Jahres in der Türkei und die andere Hälfte in Deutschland. Mein Vater könnte nicht für immer „zurückkehren“. Ich selbst lebe seit 21 Jahren, fast die Hälfte meines Lebens, in diesem Land. Wenn ich die Zeit noch einmal Revue passieren lasse, wird mir bewusst, dass ich hier unzählige positive Eindrücke sammeln durfte. Heißt das jedoch, dass man hierzulande nicht auch auf Ungerechtigkeiten stößt? Dass man nichts Negatives erlebt? Dass einem nicht gelegentlich am Arbeitsplatz, in der Schule oder im Bus Dinge widerfahren, die beschämend und völlig überflüssig sind? Natürlich kommt so etwas vor. Beispielsweise wurde ich dreimal mit der Frage konfrontiert: „Sind Sie Hausmeister hier?“ Einmal in einem Krankenhaus, einmal in einer Kirche und einmal an einer Schule – von einem Grundschulkind. In solchen Erlebnissen zeigt sich, welches „Türken“-Bild noch immer in den Köpfen mancher Deutscher herumschwirrt. Denn Fragen wie diese kommen direkt aus dem Unterbewusstsein. Andererseits kann das wohl jedem Menschen überall auf der Welt passieren. Derartige Erfahrungen sollten nicht den Blick auf die vielen Vorzüge Deutschlands verstellen, den Blick auf das angenehme Leben in einer pluralistischen Demokratie. Trotz aller zweifellos vorhandenen kleineren Misstöne halte ich es schon aufgrund der historisch verwurzelten Freundschaft zwischen Türken und Deutschen für unerlässlich, unsere Verbundenheit und unsere Freundschaft offen zu zeigen. Und vor allem sollte die türkischstämmige Bevölkerung einen möglichst großen Beitrag zur Stärkung der deutschen Demokratie leisten.

Letzte Aktualisierung: 7. Januar 2017
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