Gesellschaft Kolumnen

Als Migrant in Deutschland leben

Muhammet Mertek

Die ersten türkischen „Gastarbeiter“ in Deutschland hatten noch kaum eine Vorstellung davon, was eine Demokratie überhaupt ist. Viele von ihnen hatten in ihrem bisherigen Leben noch nie eine Schwerindustrie, geschweige denn eine Autofabrik gesehen. Und auch der erste Kontakt mit einem Sozialstaat erfolgte erst in Deutschland: Ungeachtet möglicher sozialer Unterschiede konnten sie sich frei von einem Arzt ihrer Wahl behandeln lassen. Und in den staatlichen Ämtern begegneten ihnen anstelle der gewohnt arrogant-mürrischen „Staatsdiener“ nun Menschen, die sie fragten, „Was kann ich für Sie tun?“.

Als vor 15 Jahren ein befreundeter türkischer Professor zum ersten Mal die Stadt Dortmund besuchte, gelangte er, schon nachdem er wenige Straßenzüge besichtigt hatte, zu der Feststellung: „Man hat uns jahrelang hinters Licht geführt. Diese Stadt ist so übersichtlich, und überall gibt es Bäume. Wieso sehen unsere Verantwortlichen das nicht und nehmen sich kein Beispiel daran?“ Ein anderer Freund, den ich vom Düsseldorfer Flughafen abholte, reagierte, nachdem wir einige Kilometer unserer Etappe bewältigt hatten, ebenfalls mit Bewunderung: „Die Straßen hier sind ja gar nicht mit Asphaltflicken zugepflastert!“ Daran hat sich bis heute glücklicherweise nichts geändert. Das Flugzeug gestattet schon im Landeanflug einen Blick auf eine bemerkenswerte und für türkische Besucher gänzlich ungewohnte Stadtlandschaft. Die Art und Weise, wie sich die ausgeprägte Verstädterung vollzogen hat, kündet von einer fortschrittlichen und hoch entwickelten Zivilisation. Allerorten dominiert das Grün, und das meine ich nicht im politischen Sinne.

Als ich mit einem befreundeten Historiker wieder einmal unterwegs nach Berlin war – auch er zum ersten Mal in Deutschland -, stellte er verdutzt fest: „Jetzt haben wir schon so viel Strecke zurückgelegt, und noch immer sind wir durch keine Dörfer gefahren und haben keine Viehherden gesehen. Ist ja sehr monoton.“ Richtig. Eine gewisse Monotonie scheint in Deutschland tatsächlich verbreitet zu sein. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass auf fast jedem Fleck des Landes schon Hand angelegt wurde. Verstädterung, Einkaufszentren, Straßen, Autobahnen, Wälder, landwirtschaftliche Flächen, Verkehr usw. – all dies das Einsatzgebiet einer beachtlichen Ingenieurskunst. Dabei mischt sich niemand in die Angelegenheiten anderer ein. Jeder geht seinen eigenen Weg. Jeder lässt jedem das Seine.

Die Deutschen sind ein fleißiges Volk. Sie haben zwei Weltkriege erlebt, aber dennoch in kurzer Zeit einen gut funktionierenden demokratisch-sozialen Rechtsstaat aufgebaut. Preußische Tugenden wie Genauigkeit und Pünktlichkeit sind fest im Bewusstsein der Bevölkerung verankert. Die Deutschen gehören zu den Völkern, die in der Weltgeschichte schwere Rückschläge einstecken mussten. Von der Reformationszeit bis zum Dritten Reich bewältigten sie eine historische Odyssee, die an das Schicksal des Dr. Faust erinnert. Kaum betritt Mephisto die Bühne, schon klopft das Unglück an die Tür. Denn obwohl Dr. Faust intelligent ist, schließt er einen Pakt mit dem Teufel. Auch in diesem Land gibt es und gab es immer wieder Menschen, die sich mit Mephisto eingelassen haben. Sie halten sich für überaus intelligent und richten, trunken von ihrem Hochmut, größtes Unheil an. Allerdings darf meiner Ansicht nach deshalb noch lange kein Kollektivurteil über das deutsche Volk gefällt werden.

Im Heimatland der türkischen „Gastarbeiter“ herrschten schwierige Zeiten. Das Land, in das sie emigrierten, bot ihnen im Gegenzug die Möglichkeit, ihr Leben zu verwirklichen, nämlich durch Brot, Arbeit, Weib und „Esel“ (Auto). In der Vielzahl der Vereine, die sie gründeten, fanden sich Nischen für buchstäblich jede Gruppe der türkischen Bevölkerung. Um den islamischen Glauben praktizieren können, wurden zahlreiche Moscheen eröffnet. Auch heute werden in etlichen Städten noch neue Moscheen sogar mit Minaretten errichtet oder wurden bereits fertig gestellt. Hunderttausende von Türkischstämmigen haben mittlerweile Immobilien in Deutschland erworben, ohne dass jemand deswegen behauptet, das Land werde an die „Ausländer“ ausverkauft. Deutschland gehört weltweit zu den wenigen Ländern, in denen die Menschen ihre Religion frei ausüben können. Die Religions- und Gewissensfreiheit ist im Grundgesetz fest verankert. Während im Grundgesetz das Neutralitätsprinzip vorherrscht, enthalten die Länderverfassungen auch Bezugspunkte zur Religion. Das Schulgesetz des Landes Nordrhein Westfalen beispielsweise, welches an die hiesige Landesverfassung angelehnt ist, lautet im zweiten Artikel wie folgt: „Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor der Würde des Menschen und Bereitschaft zum sozialen Handeln zu wecken, ist vornehmstes Ziel der Erziehung. Die Jugend soll erzogen werden im Geist der Menschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit, zur Duldsamkeit und zur Achtung vor der Überzeugung des anderen, zur Verantwortung für Tiere und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, in Liebe zu Volk und Heimat, zur Völkergemeinschaft und zur Friedensgesinnung.“ (§2)

Obwohl ein Teil der Medien und bestimmte politische Kreise gelegentlich ausgrenzende, diskriminierende, dem ersten Artikel des Grundgesetzes prinzipiell widersprechende Aktivitäten und Ziele verfolgen, betrachtet die Mehrheit der türkischstämmigen Menschen Deutschland inzwischen als ihr „Vaterland“. Ist die Annahme der deutschen Staatsangehörigkeit durch etwa 800.000 Türkischstämmige nicht der stärkste Beweis dafür, dass sie sich als Einheimische wahrnehmen? 66.000 türkischstämmige Selbstständige schaffen 350.000 Arbeitsplätze. Sie zahlen jährlich mehrere Milliarden Euro Steuern in die Staatskassen. 500.000 Schüler türkischer Herkunft besuchen die Schulen. Auch das zeigt, dass die Türken inzwischen zu einem festen Bestandteil dieser Gesellschaft geworden sind. Die meisten von ihnen werden für immer hier in Deutschland bleiben, weil sie sich hier im Lande eine Existenz aufgebaut haben.

Auch mein Vater kam 1970 als „Gastarbeiter“ nach Deutschland. Als ehemaliger Bergmann führt er mittlerweile ein Rentnerleben. Wie so viele Mitglieder der ersten Generation verbringen meine Eltern die eine Hälfte des Jahres in der Türkei und die andere Hälfte in Deutschland. Mein Vater könnte nicht für immer „zurückkehren“. Ich selbst lebe seit 20 Jahren, fast die Hälfte meines Lebens, in diesem Land. Wenn ich die Zeit noch einmal Revue passieren lasse, wird mir bewusst, dass ich hier unzählige positive Eindrücke sammeln durfte. Heißt das jedoch, dass man hierzulande nicht auch auf Ungerechtigkeiten stößt? Dass man nichts Negatives erlebt? Dass einem nicht gelegentlich am Arbeitsplatz, in der Schule oder im Bus Dinge widerfahren, die beschämend und völlig überflüssig sind? Natürlich kommt so etwas vor. Beispielsweise wurde ich dreimal mit der Frage konfrontiert: „Sind Sie Hausmeister hier?“ Einmal in einem Krankenhaus, einmal in einer Kirche und einmal an einer Schule – von einem Grundschulkind. In solchen Erlebnissen zeigt sich, welches „Türken“-Bild noch immer in den Köpfen mancher Deutscher herumschwirrt. Denn Fragen wie diese kommen direkt aus dem Unterbewusstsein. Andererseits kann das wohl jedem Menschen überall auf der Welt passieren. Derartige Erfahrungen sollten nicht den Blick auf die vielen Vorzüge Deutschlands verstellen, den Blick auf das angenehme Leben in einer pluralistischen Demokratie. Trotz aller zweifellos vorhandenen kleineren Misstöne halte ich es schon aufgrund der historisch verwurzelten Freundschaft zwischen Türken und Deutschen für unerlässlich, unsere Verbundenheit und unsere Freundschaft offen zu zeigen. Und vor allem sollte die türkischstämmige Bevölkerung einen möglichst großen Beitrag zur Stärkung der deutschen Demokratie leisten.

Letzte Aktualisierung: 7. Januar 2017
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