Gesellschaft

Warum der Antisemitismus uns alle bedroht

Dr. Michael Blume macht in seinem Buch „Warum der Antisemitismus uns alle bedroht“ (Patmos) sehr deutlich, wogegen wir in unserer Gesellschaft kämpfen sollen. Das Buch finde ich sehr gelungen, da Blume diese gesamtgesellschaftliche Aufgabe mit konkreten Beispielen eindrucksvoll darstellt.

Er zeigt auch, wie die rechtsextremistischen oder radikalen Gruppen von Neonazis bis Neosalafisten mental eingestellt sind.

„Uns erscheint zunächst kaum möglich, sich zwei weiter voneinander entfernte Weltanschauungen als den deutschen Nationalsozialismus und den arabischen Islamismus vorzustellen. Doch was diese beiden so unterschiedlichen Ideologien verband und bis heute verbindet, ist der Antisemitismus – der Glaube an eine jüdisch bestimmte Weltverschwörung, gegen die man sich mit Gewalt „verteidigen“ müsse.“ (S. 18)

Hannah Arendt formuliert diese Weltverschwörung sehr treffend: „Die Nazipropaganda verwandelte die Fabel einer jüdischen Weltverschwörung aus einer objektiv debattierbaren Lüge in das zentrale Element einer totalitären Wirklichkeit: die Nazis handelten wirklich so, als ob die Welt von Juden beherrscht sei und einer Gegenverschwörung bedürfe, um gerettet zu werden.“

Tatsächlich glauben auch viele Muslime an eine jüdische Weltverschwörung gegen den Islam. Scheinbar begründet wird dies durch einige Überlieferungen des Propheten Muhammad über die Vernichtung jüdischer Stämme, die als Vorboten einer endzeitlichen Vernichtung aller Juden gedeutet werden. Die ab 1485 verzögerte Einführung des Buchdrucks in arabischen Lettern und Übernahme antisemitischer Verschwörungsmythen wie der „Protokolle der Weisen von Zion“ aus dem Westen sowie die arabische Niederlage gegen den Kleinstaat Israel trugen laut Blume zur Verbreitung des Antisemitismus in der muslimischen Welt bei.

„So wird ein verschwörungsgläubiger Muslim davon ausgehen, den zunehmend schwach geglaubten Allah und die Lehren des Propheten gegen eine weltweite, bedrohlich übermächtige Verschwörung „verteidigen“ zu müssen. Damit aber kann er auch die traditionelle Vielfalt an Religionen und Völkern wie auch an islamischen Rechtsschulen, sufisch-mystischen Orden, mutigen Reformdenkern, später Wissenschaftlerinnen und Bildungs- und Demokratiebewegungen nicht mehr als Reichtum, sondern nur als Teil der vermeintlich jüdisch bestimmten Verschwörung wahrnehmen und bekämpfen. Der Antisemitismus vergiftet und polarisiert den Islam dualistisch.“ stellt Blume zu Recht fest. (S.59)

Wer mit derartigen Verschwörungsmythen infiziert ist, entwickelt ein krankhaftes Weltbild, das der Therapie bedarf. Denn, wie Blume es detailliert beschreibt, handelt es sich dabei um einen pathologischen Akt. Verschwörungsgläubige vertreten keine überprüfbaren – und damit auch widerlegbaren- Theorien, sondern Verschwörungsmythen, die den „Feind“ von vornherein zu kennen meinen und ihn hinter aller Art von negativen Ereignissen vermuten. Wenn nachgewiesen ist, dass keine Hexen, sondern Ameisen die Ernte vernichtet haben – dann haben eben die Hexen die Ameisen geschickt. Die Verschwörungsmythen sind also gegen Einwände und Widerlegungen immunisiert, denn in jeder Hinterfragung zeigt sich der übermenschlich begabte Feind.

Daher sind Hass und reaktionär-feindselige Haltung ein Dauerzustand bei unter einer Identitätsproblematik leidenden Menschen, die an solche Verschwörungsmythen glauben, was zur „dunklen Seite des Herzens“ gehört.

Fast alle Kennzeichen des Antisemitismus werden von Verschwörungsmythen bis Rassismus (gebildet aus dem arabischen raz(Herkunft) im 15. Jahrhundert in Spanien) sowie die historische Entwicklung und die digitale Verbreitung des rassistischen und antisemitischen Gedankengutes in diesem Buch deutlich dargelegt.

Zusammengefasst wird der Grundgedanke des Buches in diesem Absatz: „Antisemitismus richtet sich immer auch, aber niemals nur gegen Jüdinnen und Juden. […] Der Mythos einer jüdisch mitbestimmten Weltverschwörung lässt sich auf tatsächliche und behauptete Nachfahren von Jüdinnen und Juden ebenso ausweiten wie auf echte oder vermeintliche Freimaurer und Illuminaten, auf Marxisten, auf Humanisten, Sinti und Roma, auf Yeziden, auf US-Amerikaner und Kurden, auf Protestanten und Katholiken, auf Schiiten, Sunniten, Aleviten und immer, ausnahmslos immer auf die vermeintliche „Lügenpresse“, auf jede unabhängige Justiz, auf Ärzte und auf empirisch forschende Wissenschaften. Deswegen dient der Kampf gegen Antisemitismus keinesfalls nur dem Schutz jüdischen Lebens oder des israelischen Staates – sondern dem Schutz aller Menschen, Religionen, Weltanschauungen und Staaten. Antisemitismus bedroht am Ende uns alle.“ (S. 171)

An dieser Stelle möchte ich nicht mehr verraten.

Als ich das Buch las, gingen mir viele Gedanken durch den Kopf. Einer war: Wir Muslime glauben ja, dass viele Propheten an das israelische Volk herabgesandt wurden. Warum? Wenn ein Prophet zu einem Volk geschickt wird, muss dort ja Probleme geben. In einer Region von Südanatolien über Kanaan bis Ägypten, in der sich fast alle prophetischen Ereignisse in Tausenden von Jahren ereigneten, spielten die jüdischen Stämme oder das jüdische Volk eine zentrale Rolle. Also die Ursprünge des Antisemitismus erstrecken sich über Jahrtausende, womit man sich noch tiefer auseinandersetzen müsste.

Michael Blume möchte mit seinem Buch sagen, dass alle rassistischen Ideologien oder gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit oder rechtsextremistische Diskurse irgendwie vom Antisemitismus geprägt sind, und daher bedroht er uns alle. 

Wenn man neue, bereichernde Erkenntnisse über den Antisemitismus und die entsprechende Rhetorik von radikalen Strömungen sowie die Bedeutung der Demokratie und Vielfalt gewinnen möchte, sollte man das Buch auf jeden Fall lesen.

Muhammet Mertek

Letzte Aktualisierung: 26. Mai 2019
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