Gesellschaft Kolumnen

Respekt(los) gegenüber den Terroropfern

Könnten wir doch alle den Opfern von Terror gegenüber noch sensibler sein und das Leid ihrer Hinterbliebenen besser verstehen. Denn der Mensch ist ein wunderbares Geschöpf, da sich in ihm die verschiedenen Namen Gottes manifestieren. Unschuldige sind deshalb überall unschuldig. Wir sind alle zuerst Menschen, dann Muslime, Christen, Juden, usw..

Ich musste in der Schule beobachten, dass einige Schüler sich schwer taten, in der Schweigeminute für die Opfer der unfassbar brutalen, sowie zugleich feigen Terroranschläge in Paris vom Freitagabend des 13. November 2015 aufzustehen. Nicht zuletzt, weil viele ihrer Eltern etliche Verschwörungstheorien, genährt von einschlägig bekannten türkischen Medien, dazu hören, die mit verzerrten und bisweilen pervers anmutenden politisierten Wahrnehmungskünsten alle Werte des Menschseins ins Abseits stellen ließ.

Lassen Sie mich das mit einem Beispiel erklären.

Um Punkt 12 Uhr hat man in Deutschland eine Durchsage zur Schweigeminute zu den Terroropfern von Paris gemacht. In einer Klasse, in der sich auch eine Handvoll türkisch- und marrokanischstämmige Schülerinnen und Schüler befanden, haben diese zunächst gezögert, aufzustehen, erst auf inständiges Drängen und Ermahnen des Lehrers standen sie dann – zumeist widerwillig – auf. Daraufhin fingen einige Schüler an zu lachen. Als der Lehrer im Anschluss an die Schweigeminute das Verhalten seiner Klasse sowie insbesondere das Verhalten der betreffenden Schülerinnen und Schüler entsprechend tadelnd beurteilte, sagte er: “Dies ist ein Schandfleck für Muslime!” Daraufhin fing eine hitzige Diskussion an.

Eine marrokanische Schülerin ergriff das Wort und formulierte das einzige Argument der muslimischen Schüler so: “Warum halten die Deutschen keine Schweigeminute, wenn Menschen in Syrien oder anderswo sterben?”

Was auch immer der Grund sein mag, müssten denn nicht gerade diese Schüler an vorderste Stelle mindestens ein Zeichen gegen den Terror setzen? Wird ein, wie auch immer geartetes, anderes Verhalten nicht bei deutschen Schülern den Eindruck erwecken, muslimische Schüler unterstützten auf derartige, ideelle Weise gar den Terror? Unter diesen Umständen werden sich junge Muslime keinesfalls mit einem “aber” erklären können, ganz gleich wie stark und berechtigt ihre Argumente sein können. Dieser Art widerspricht auch dem Geist der Religion, der sie angehören. Letztlich haben EU-Länder mit der Schweigeminute ihre Solidarität mit den Opfern und ihren Hinterbliebenen bekunden wollen. Es war keine Aktion gegen Muslime, zumal unter den zahllosen Opfern der Pariser Terroranschläge insbesondere viele junge Menschen zu beklagen gewesen sind. Nicht wenige von ihnen waren selbst Muslime, die in Paris lebten.

Bei einigen Muslimen erkennt man, nicht zuletzt anhand des Beispiels aus dem Schulalltag, ein immenses Verständnisproblem, wenn sie selbst das Terror- oder Gewaltphänomen inmitten ihres eigenen Glaubens zu erklären und mitunter gar zu legitimieren versuchen. Dabei wird eine Haltung an den Tag gelegt, die reaktionär ist und von Intoleranz, ja sogar von Hass gegenüber Andersdenkenden – auch wenn diese sogar selbst Muslime sind – geprägt ist.

In scheinbar religiösen Milieus wird demnach alles überstrapaziert und politisiert, so dass der moralische oder religiöse Boden unter den Füßen weggleitet. In einem solchen unkultivierten Verständnis sucht man auch vergebens nach den goldwerten koranischen und prophetischen Prinzipien im Umgang mit dem Menschen. Solche Menschen interessiert nicht einmal, dass der Prophet beim Trauerumzug eines Juden etwa aus Respekt aufstand und er seine Gefährten daran erinnerte, dass es sich beim Toten um einen Menschen handelte.

Gewiss legen diese junge Menschen, beeinflusst vom Elternhaus, eine solche reaktionäre Haltung an den Tag. In vielen Familien ist zu beobachten, dass geradezu bewusst zwielichtige autoritäre islamistische Figuren als Idole aufgesetzt werden, ohne dass Kinder die Möglichkeit haben, diese wirklich kennenzulernen und diese mittels kritischer Denkprozesse im Sinne einer aufklärerischen Tradition zu hinterfragen.

Müssten hiesige muslimische Familien nicht mehr sensibler und verantwortlicher sein, während die Weltgemeinschaft offenkundig Islam und Terror gleichsetzt? Der Islam sieht die Glückseligkeit des Menschen sowohl im Dies- als auch im Jenseits vor. Der Islamismus hingegen ist eine Ideologie, die den Staat sakralisiert und die Gesellschaft topdown, also in all ihren Traditionsmustern, Normen und Werten sowie in ihrer Geschichte radikal verändern will. Während Dschihad das Ringen des Menschen mit seinen Trieben, ganz im individuellen Sinne zu verstehen, vorsieht, bezweckt die Ideologie des Dschihadismus folglich Krieg und Gewalt.

Vielleicht – so möchte man freilich meinen – sind sich diese Familien gar nicht bewusst, dass sie ihre Kinder fälschlicherweise mit der Ideologie des Islamismus und Dschihadismus infizieren.

Die islamische Religion bezweckt, das Gute im Menschen zu entwickeln, indem sie Werte wie Toleranz, Liebe, Respekt, Solidarität, Aufrichtigkeit, Weisheit, Tugend und Gerechtigkeit gleichermaßen fördert. Die vornehmste Aufgabe der Familien sollte demnach sein, eben genau diese Werte ihren Kindern zu vermitteln, anstatt sie in jungen Jahren zu radikalisieren und zu politisieren und das ausgerechnet in einem Land, wo die demokratische Kultur, der Rechtsstaat, Pluralismus und soziales Handeln sich in einem bestimmten Niveau, das ungeachtet mancher, weil unvermeidlich erscheinenden Schieflage, als nahezu beispielhaft etabliert haben.

Lasst uns nun überlegen: Welcher Religion oder welchem moralischen oder menschlichen Verständnis passt es, dass Menschen sich davor scheuen, den brutal ermordeten Opfern von Paris oder selbstverständlich anderswo bzw. überall auf der Welt Respekt zu erweisen? Unverständlich bleibt daher auch die – gelinde ausgedrückt – unverschämte Aktion in einem Istanbuler Stadion, dieser Schweigeminute mit Pfeifprotesten zu begegnen. Dienen Menschen mit islamistischer und dschihadistischer Einstellung also eher dem besseren Verständnis vom Islam oder genau dem Gegenteil?

Gleichzeitig lässt sich auch anmerken, dass die Schweigeminute für Terroropfer freilich nicht nur auf eine bestimmte geographische Kleinräumigkeit beschränkt bleiben darf, sondern sich auch auf andere Länder ausweiten sollte. Somit würde man erreichen, dass Schweigeminuten einen umfassenden und universellen Charakter annehmen.

Muhammet Mertek

Letzte Aktualisierung: 19. Dezember 2019
Zur Werkzeugleiste springen