Erziehung & Bildung

Rationalität in der islamischen Theologie

Im islamischen Religionsunterricht erlebt man manchmal in frustrierender Weise, wie muslimische Schüler die absolute Wahrheit undifferenziert für sich beanspruchen. Auch eine fanatische Haltung, die sich gegen Vielfalt und andere Meinungen stellt, ist nicht selten anzutreffen. 

Auf meine Frage, warum eine Blutung die rituelle Vorwaschung ungültig mache, sodass man das Gebet nicht verrichten kann, reagierten einige sofort – ohne Aufzeigen und ohne irgendeine Argumentation – mit dem Ausruf: „haram, haram“. Daraufhin habe ich kurz die sunnitischen Rechtsschulen erläutert, über die viele der Schülerinnen und Schüler nichts wussten. Mein Ziel war es die Vielfalt auch im Kern des Islams ersichtlich zu machen und eine tolerante Haltung zu fördern. Das gängige Beispiel, wonach die rituelle Waschung zum Gebet auch nach einer Blutung nicht ungültig wird, wie es die schafiitische Rechtsschule lehrt, hat viele Schüler überrascht. 

Als ich den Sammelband „Rationalität in der islamischen Theologie“ (Band I: Die klassische Periode vom De Gruyter-Verlag) las, habe ich mich an dieses Erlebnis erinnert. Maha El Kaisy-Friemuth, Reza Hajatpour und Mohammed Abdel Rahem haben als Herausgeber des Buches 19 Beiträge zusammengestellt und uns damit ein Nachschlagewerk zur Verfügung gestellt.

Ich halte ein Buch wie dieses für eine Pflichtlektüre für alle Theologiestudierenden, Pädagogen und Imame, die irgendwie mit dem Islam beruflich zu tun haben oder zu tun haben werden. Natürlich auch für Islam-Kritiker, die aufrichtig mit der Sache umgehen möchten. Sie sollten wenigstens dadurch erfahren, dass viele Muslime in der Gegenwart von der islamischen Gelehrsamkeit im Mittelalter weit entfernt sind. 

Warum? Wenn heute in der muslimischen Community Rationalität zur Sprache kommt, wird dem meist sofort mit einer negativen Haltung oder einer Angst erfüllten Reaktion begegnet. Darin zeigt sich eine Haltung, die Rationalität sofort als Gegensatz zum Glauben ansieht. In diesem Zusammenhang wird meistens die vorrangige Bedeutung einer Denkstruktur herausgestellt, die von den üblichen, traditionellen Erklärungsweisen geprägt ist. Es geht sogar so weit, dass oft gesagt wird, dass der Glaube überhaupt mit Ratio oder Denken nichts zu tun habe.

Ich bin kein Theologe. Als jemand, der sich intensiv mit dem Islam beschäftigt und viele Bücher zu islamischen Themen gelesen hat, habe ich das Buch als weitgehend sachlich, zum größten Teil verständlich, gut strukturiert und sehr informativ empfunden. 

Ich kann natürlich im Rahmen einer Rezension nicht auf alle Beiträge eingehen. Aber ich kann die Beiträge, die exemplarisch bestimmte Probleme behandeln und spezifische Perspektiven vertreten, erwähnen. Generell führen die Beiträge die grundlegenden Gesichtspunkte der islamischen Theologie in ihrem Entwicklungsprozess prägnant vor Augen.

So befasst sich z.B. Omar Hamdan mit den Ursprüngen und begrifflich-konzeptionellen Anfängen der Mu’tazila. Dabei bezieht er sich in Beispielen auf umstrittene koranische Lesarten (qira’at). So besagt zum Beispiel der Vers (7:156) nach der üblichen Schreibweise asa’u, dass „Er (d.h. Allah) sprach: Mit meiner Strafe treffe ich, wen Ich will“. Die Lesart asa’a führt zu einer völlig anderen Bedeutung, nämlich: „Er sprach: Mit meiner Strafe treffe ich den, der Übles getan hat“. Diese Lesart geht unter anderem auf Hasan al-Basri zurück und wurde von den frühen Qadariten zur Unterstützung ihrer dogmatischen Lehren übernommen.

Mourad Qortas beschäftigt sich mit den eindeutigen (muhkam) und mehrdeutigen (mutasabih) Versen, womit man sich ein klares Bild über den Ambiguitätsdiskurs in der Koran-Gelehrsamkeit machen kann. Die Ambiguität im Koran wird anhand etlicher Beispiele in verschiedener Hinsicht und in richtiger Weise analysiert. Ich fand sehr spannend, wie Koranverse von den Rivalen wie Mu’tazila und Aschariyya für die Unterstützung eigener Thesen benutzt werden können. Es geht hier an einer Stelle um die innermuslimische theologische Frage vom freien Willen vs. Prädestination. Ihre Diskussion dreht sich um die Auslegung des Verses „Wer also immer (glauben) will, der möge glauben; und wer immer (ungläubig sein) will, der möge ungläubig sein.“ (18:29) Die Mu’tazila beschreibt diesen Vers als muhkam, da sie darin einen Beleg für ihr Anliegen des freien Willens findet. Die Asch’ariyya betrachtet ihn dagegen als mehrdeutig und interpretationsbedürftig. Andererseits argumentiert die Aschariyya mit dem Vers „Doch ihr könnt nicht wollen, sofern Gott es nicht will“ (76:30) im Sinne eines eindeutigen Belegs für die Prädestinationslehre, während die Mu’tazila dem Vers lediglich einen mehrdeutigen Charakter zuweist.

Im Anschluss daran frage ich mich, wer gibt denn überhaupt den Ausschlag für die Deutung des Korans? Kommt selbst die Asch’ariyya nicht zu ihrem Urteil dank der Ratio? Obwohl im Koran „tafakkur, denken, überlegen, nach Weisheit suchen“ mehrmals genannt wird, wird der Rationalität kein angemessener Platz eingeräumt.

Eine weitere Problematik, die in dem Buch behandelt wird, sind Offenbarunganlässe, womit sich Tarek Anwar Abdelgayet Elkot beschäftigt. 

Mohammed Abdel Rahem geht in seinem Beitrag auf die Rationalität im Islamischen Recht ein, besonders auf die rationalen Aspekte in der Methode der hanafitischen Rechtsschule. Historisch gesehen war die freie Rechtsmeinung (ra’y) bis in die erste Hälfte des 2. Jahrhunderts der Hidschra das meist verbreitetste Mittel zur Rechtsfindung. Für Abu Hanifa (gest. 767) spielte in der Argumentation und in der Bemühung um die Rechtsfindung (Idschtihad) das persönliche Urteil (ra’y) und der Analogieschluss (qiyas) eine große Rolle. Von Anfang an ließ sich diese Rechtsschule bei der Rechtsfindung von der Ratio leiten.

Was Rationalität angeht, wird dieser natürlicherweise von der Mu’tazila viel Platz eingeräumt. Das Verhältnis der Mu’tazila zu Hadith und Koranexegese wird von verschiedenen kompetenten Autoren wissenschaftlich fundiert erläutert. 

Der übertragene Sinn der Begriffe (madschaz) wird als Schittstelle zwischen Sprache und Theologie nicht vernachlässigt. Muhammed Ragab erklärt die philologisch-rationale Herangehensweise anhand der Untersuchungen von vielen Gelehrten der Mu‘tazila.

Welchen Einfluss die rationale Methode der Mu’taziliten besonders auf die Zaiditen ausübte, erfährt der Leser im Beitrag von Reza Hajatpour, der sich mit Mu’tazila und die Zwölfer-Schia beschäftigt.

Die duale Epistemologie al-Maturidis wird von Hureyre Kam behandelt. Hier geht es u.a. um die Erkenntnis der wahren Religion sowie der Wirklichkeit der Dinge. Es wird zwischen zwei Erkenntnisbereichen in der Epistemologie al-Maturidis unterschieden. Der erste betrifft die Religion, der zweite betrifft die menschliche Erkenntnis im umfassenden Sinn.

Daran schließt sich der Beitrag von Angelika Brodersen „Sunnitische Identitätssuche im Transoxanien des 11. Jahrhunderts“ an. Al-Aschari zufolge beruhen die Wissensinhalte von notwendigem Wissen oder Erkenntnissen durch rationale Annahme auf der göttlichen Offenbarung. Insofern besteht für den Menschen sehr wohl eine Verpflichtung, sich seines Verstandes zu bedienen, um die Zeichen und Hinweise in der Schöpfung zu erfassen. Diese Verpflichtung existiert jedoch erst, nachdem die Menschen die Offenbarung empfangen haben. Demgegenüber steht für al-Maturidi und seine Nachfolger der Verstand von Anfang an als gleichwertiges Erkenntnismittel neben der Offenbarung, freilich mit der Konsequenz der Verantwortlichkeit des Menschen für sein Denken und Handeln unabhängig vom Empfang der Offenbarung. Ein weiterer Unterschied besteht in der Glaubensfrage. Nach der asch‘aritischen Auffassung resultieren die menschlichen Handlungen als notwendige Folgen aus dem rechten Glauben, der konsequenterweise zunehmen kann. Diese Auffassung wird von maturidischer Seite als falsch erachtet. „Die überragende Autorität stellt hier Abu Hanifa dar, nach dem der Glaube als „Anerkennung durch die Zungen und Zustimmung des Herzens“ definiert ist. Jemand, der große Sünden begeht, bleibt gläubig.“ 

Thomas Würtz führt deutlich vor Augen, wie Taftazani (gest. 1390) als maturidischer Autor durch seine Werke gewirkt hat. Anhand der Schöpfungslehre und des Attributs des ewigen Erschaffens (takwin) werden auch die Unterschiede zwischen den beiden sunnitischen Schulen dargestellt, unter Angabe der Argumente, die zu den Unterschieden geführt haben. Ebenso vielfältig sind die theologischen Ansätze in der Schöpfungsfrage. In ähnlicher Weise wird auch die freie Wahl und der freie Wille diskutiert. Anhand der mittleren Herangehensweise der maturidischen Auffassung wird erläutert, wie die weitgehende Willensfreiheit der Qadariten und die Theorie des göttlichen Zwangs bei den Dschabriten vermieden werden konnten.

Mahmoud Abdallah setzt sich mit dem „Wettstreit um öffentliche Ordnung im Islam“ unter dem Gesichtspunkt „Hisba bei al-Mawardi zwischen Theologie und Rationalität“ auseinander.  Damit versucht er deutlich zu machen, wie man vor tausend Jahren anhand von hisba die Rationalität und Tradition miteinander im Einklang zu bringen versucht hat. Hisba beruft sich auf dem Koranvers: „Und es soll aus euch eine Gemeinschaft werden, die zum Guten aufruft, das rechte gebietet und das verwerfliche verbietet.“ (3:104) Dafür wird das Werk Die Ahkam as-Sultaniyya des al-Mawardi inhaltlich eingehend analysiert. Aus heutiger Sicht, im Rahmen eines Rechtsstaates, erübrigen sich all diese Diskussionen, die früher noch in anderer Weise notwendig waren. Dass der Staatsapparat solche Aufgaben übernehmen soll, wurde auch bei al-Mawardi nicht außer Acht gelassen, denn „die effektivste Kraft ist die Regierung und die Verwaltung.“ Weiterhin geht Abdallah in seinem Beitrag auf die „rationale Lesart der Theologie versus theologische Lesart der Rationalität“ ein. Al-Mawardi sei es gelungen, Rationalität und Überlieferung miteinander in Harmonie zu bringen.  

Im letzten Beitrag von Daro Alani geht es um „Herz- und Vernunfterkenntnis in der islamischen Mystik“. Hier wird vor allem auf Ibn Arabi (1165-1240) fokussiert, um das Verhältnis von islamischen Mystikern zu Rationalität, Vernunft, Erkenntnis (ma’rifa) und Wissen (ilm) zu beschreiben. Ibn Arabi bespricht drei Arten von erreichbarem Wissen: Wissen der Vernunft, Wissen der Zustände und Wissen der Geheimnisse, das über der Vernunft steht. Die Vernunft bekommt die Informationen vom Denken und ahmt es nach. Demnach ist das Urteil der Vernunft abhängig von den Daten, die sie vom Denken empfängt. Der Platz des Denkens befindet sich nach Ibn Arabi in der Vorstellungskraft. Die Vorstellungskraft hat eine umfassende Kapazität, sie empfängt aber die Bilder und Informationen nur von den Sinnen und von der Denkkraft.“

Das ist jetzt der entscheidende Punkt, der vielen muslimischen Schülern, wie am Anfang kurz beschrieben, Probleme macht. Bei vielen Schülern mangelt es, bedingt durch Erziehungs-, Bildungs- und Sprachdefizite, sowohl an Vorstellungskraft als auch an Denkkraft. Dies führt sie einerseits dazu, einen absoluten Wahrheitsanspruch zu vertreten und andererseits eine intolerante Haltung gegenüber Andersdenkenden einzunehmen. 

Abschließend möchte ich deshalb noch einen wichtigen Punkt hinweisen: Unabhängig vom akademischen Niveau des Buches müssen wir irgendwie in sprachlicher und pädagogisch-didaktischer Hinsicht eine Möglichkeit schaffen, die Vielfalt der islamischen Denkschulen und die kontroversen Diskussionen der Gelehrten sowie deren Umgang miteinander im islamischen Religionsunterricht aufzunehmen. So können wir vielleicht die Vielfalt der theologischen Auffassungen und die tolerante Haltung gegenüber Andersdenkenden vorbildlich fördern, damit wir vor Augen führen können, wie die Vielfalt und Meinungsfreiheit in einer Demokratie funktioniert. Der Sammelband beinhaltet u.a. etliche Beispiele mit religiösen und rationalen Argumentationen dafür, wie muslimische Gelehrten aufgrund eigener Urteilskräfte mit den islamischen Hauptquellen umgegangen sind. Muslime können von dieser reichen Gelehrsamkeit Gebrauch machen und sich eine neue Debattenkultur mit eigenen Meinungen aneignen. 

In diesem Sammelband, in dem vier Beiträge in Englisch sind, werden alle Themenbereiche mit den wesentlichen Belegen im Lichte der Hauptwerke der Religionsgelehrten analysiert.

Besonders um ein reflektiertes Bewusstsein unter den Muslimen zu fördern, finde ich das Buch, das zum Teil inhaltlich sehr anspruchsvoll ist, sehr hilfreich. Muslime können sich selbst erst dann ein differenziertes Bild vom Verhältnis zwischen Rationalität und Religion sowie den Stellenwert der Vernunft in der islamischen Religion machen, wenn sie sich mit diesen Begriffen auseinandersetzen, sie studieren und auf diesem Wege aneignen können. 

Die Rationalität wurde entsprechend dem orthodoxen Mainstream oder aus sozialpolitischen Gründen im Verlaufe der islamischen Geschichte zurückgedrängt oder nur eingeschränkt zugelassen. Muslime befinden sich heute im Zusammenhang mit ihrer Religion in einem Dilemma zwischen Rationalität und Irrationalität. Sie müssen sich entscheiden. Diese Entscheidung wird ihre Zukunft bestimmen.

Muhammet Mertek

Letzte Aktualisierung: 18. August 2019
Zur Werkzeugleiste springen