Gesellschaft Vorträge

Quo vadis?

Unter dem Wort „Boot“ können wir uns alle bildhaft etwas vorstellen. Gleiches gilt auch beispielsweise für den Satz „Wir sitzen alle in einem Boot.“

Wenn ich selbst an Boote denke, denke ich zurzeit häufig an gekenterte Boote im Mittelmeer, manchmal aber auch an die Arche Noah, die mich wiederum an Aschure denken lässt, eine Speise, die auf folgender Legende beruht: Als Noahs Arche nach der großen Sintflut anlandete, hatten die Überlebenden das Bedürfnis, ein Fest zu feiern. Die Vorräte waren erschöpft, trotzdem suchte man die Arche nach jedem Bissen Nahrung ab, den man finden konnte.

Die wichtigste Eigentümlichkeit der Aschure liegt darin, dass Nahrungsmittel, die eigentlich nichts miteinander gemein haben, zusammengemischt werden: Weiße Bohnen, Kichererbsen, Weizen, Korinthen, Aprikosen, Feigen, Haselnüsse, Walnüsse, Pinienkerne, Rosinen, Reis, Milch und Zucker (je nach Wunsch auch Orangenschalen, Esskastanien, Rosenwasser, Apfelstücke usw.). Garniert wird das Ganze dann noch mit Granatapfelstückchen. All diese Zutaten werden miteinander kombiniert und vereinigen sich zu einem außerordentlichen Wohlgeschmack. Das Besondere dabei ist, dass sich jede Zutat der Aschure ihren eigenen Geschmack bewahrt, dass dieser aber nicht übermächtig wird und andere Geschmackskomponenten überlagert. Man schmeckt also jedes einzelne Aroma heraus, und doch entsteht ein neuer, ganz eigentümlicher Geschmack, der Aschure-Geschmack.

Unsere Welt durchlebt gerade eine schwierige Phase. Wir sind mit Problemen konfrontiert, die ebenso groß sind wie die Wellen, die die Arche des Propheten Noah vor sich her trugen. Terror, Korruption, die ungerechte Verteilung von Reichtum, Unwissenheit, Umweltkatastrophen, Bequemlichkeit und die allgegenwärtigen Bildungsprobleme drohen uns zu Grunde zu richten. Ein Heilmittel für unsere gegenwärtigen Probleme könnte meiner Meinung nach die aufrichtige Akzeptanz unserer Vielfalt in der Einheit sein – jener Vielfalt, die sich Europa zum Prinzip erkoren hat und die eben auch die Aschure auszeichnet.

Wir alle sitzen in einem Boot. Auf diesem Boot gibt es Kammern und Kojen, in denen jeder tun kann, was er will. Oder mit anderen Worten: Ob man sich für Dönertasche oder Bockwurst entscheidet, ist jedem selbst überlassen. Aber weil wir alle im gleichen Boot sitzen, sind wir auch alle für die Probleme verantwortlich, die auf dem Boot auftreten können. Ob darauf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Vielfalt, Gerechtigkeit, Menschenrechte und Umweltschutz herrschen, liegt ganz an uns. Werte wie diese sind unsere Grundsätze. Der schottische Schriftsteller Samuel Smiles bringt es auf den Punkt: „Ohne Grundsätze ist der Mensch wie ein Schiff ohne Steuer und Kompass, das von jedem Winde hin und her getrieben wird.“

Auch der Prophet Muhammad bedient sich des Bildes eines Schiffs oder Boots, um aufzuzeigen, was ein bewusstes, positives Handeln bewirken kann:

Eine Gruppe von Menschen zieht Lose, um festzulegen, wer von ihnen sich wo auf einem Schiff niederlassen soll. Ein Teil von ihnen muss sich unter Deck begeben, der andere darf oben auf Deck bleiben. Die Passagiere unter Deck gehen immer wieder nach oben, um Wasser zu holen, und stören damit die anderen. Um sich selbst mit Wasser zu versorgen und sie nicht länger stören zu müssen, besorgen sie sich nach einer Weile ein Beil und fangen an, in den Rumpf des Schiffes ein Loch zu schlagen. Die Passagiere von oben sehen das und fragen gleichgültig, was sie denn da machen. Da antworten die unten: „Wir haben euch oft gestört, aber auf Wasser können wir nicht verzichten.“ Wenn die Passagiere von oben nun denen von unten entgegenkommen und damit verhindern, dass jene ein Loch in den Schiffsrumpf schlagen, so werden sie dadurch sich selbst und die anderen retten. Aber wenn die Passagiere von oben die anderen gleichgültig ihr zerstörerisches Werk tun lassen, so werden jene alle zusammen in den Untergang führen. (Bukhari, Hadith Nr.: 2686)

Solange wir unser Boot – unsere Erde – schützen und verantwortungsbewusst, hilfsbereit und respektvoll miteinander umgehen, werden wir von der kulturellen Vielfalt der Menschen profitieren und sie wie die unterschiedlichen Zutaten in der Aschure genießen können. Für den Anfang reicht es schon aus, wenn wir mit voller Kraft in die richtige Richtung rudern.

In diesem Sinne wünsche ich euch für eure Zukunft nur das Beste und viel Erfolg.

Muhammet Mertek

* Kurze Rede anlässlich der Abschlussfeier des 10. Jahrgangs der FER am 30.06.2017 in der Thomaskirche in Hamm

Letzte Aktualisierung: 30. Juni 2017
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