Gesellschaft

Gegen Polarisierung und gen Loyalität

Es gab einen interessanten und wichtigen Vortrag, den ich in letzter Zeit hörte: ein Vortrag, des holländischen Philosophen Bart Brandsma am Ende der Großveranstaltung „Grenzenloser Salafismus – Grenzenlose Prävention“ im Congress Center Rosengarten in Mannheim mit der Überschrift „Wie kann Prävention in Zeiten steigender Polarisierung gelingen?“.

Brandsma befasste sich hier mit dem Begriff „Polarisierung“ und veranschaulichte den Mechanismus folgendermaßen:

Bei der Polarisierung gibt es zwei Puscher, die sich gegenüberstehen, und Anhänger auf beiden Seiten. Polarisierung ist eine Dynamisierung des Wir-Sie-Denkens.

Das Phänomen der Polarisierung läuft überall auf gleiche Art und Weise ab, sei es in Hong Kong, im Libanon, in den Niederlanden oder in Mannheim. Es spielt letztendlich keine Rolle, wo Polarisierung stattfindet. Sie folgt immer demselben Muster.

Nach vielen Notizen aus seinem Vortrag entstand bei mir der Wunsch, unbedingt ein Interview mit Herrn Brandsma zu führen. Denn er legte den Finger in die Wunde. Und ich hatte einige offene Fragen, die ich ihm gerne stellen wollte. Erfreulicherweise erklärte er sich sofort dazu bereit. Ich hoffe, dass dieses umfangreiche Interview mit Herrn Brandsma in den Ländern, in denen die Gesellschaft teils oder stark gespalten ist, einen kleinen Beitrag zum friedlichen Miteinander leisten kann.

Muhammet Mertek: Herr Brandsma, Sie haben einen sehr aufschlussreichen Vortrag gehalten, der viele beeindruckt hat. Sie haben von verschiedenen Formen der Polarisierung gesprochen. Können Sie noch einmal einige benennen?

Bart Brandsma: Vielen Dank für Ihr Interesse. Wie gesagt gibt es verschiedene Formen der Polarisierung. Sie findet überall statt, wie zwischen Muslimen und Nichtmuslimen oder zwischen den Eliten und dem Volk, aber auch in der Familie, wie zum Beispiel zwischen der Familie meiner Frau und meiner eigenen Familie.

Mertek: Gibt es denn bestimmte Grundsätze, wie die Polarisierung funktioniert?

Brandsma: Ja, es gibt drei Grundlagen von Polarisierung. Erstens ist es ein Gedankenkonstrukt: Ein Wir-Sie-Denken, das wir aufbauen, wie z.B. Flüchtlinge und Deutsche. Zweitens braucht die Polarisierung einen Treibstoff (Kraftstoff), nämlich Nahrung für das Gedankenkonstrukt, das wir speisen müssen. Drittens kommt Polarisierung aus dem Bauchgefühl, also aus Emotionen heraus. Sie ist nichts Rationales.

Polarisierung ist also ein Gedankenkonstrukt, das Nahrung braucht und aus dem Bauch kommt. Das sind die Grundprinzipien der Polarisierung.

Mertek: Sie hatten in Ihrem Vortrag ein Schema gezeichnet und dementsprechend die Akteure der Polarisierung dargestellt. Können Sie kurz darstellen, wer dabei eine Rolle spielt?

Brandsma: In jeder Polarisierung gibt es die Rolle des Puschers. Auf beiden Polen befindet sich ein Puscher, von dem die Polarisierung genährt wird. Puscher verschaffen die Nahrung. Donald Trump ist z.B. ein Puscher; alle Mexikaner sind ihm zufolge faule Hunde oder alle Muslime sind Terroristen.

Die Puscher auf beiden Seiten haben also die gleiche Rolle, die neue Nahrung für die Polarisierung zu verschaffen. Wenn man es aus der Perspektive des Puschers sieht, haben sie immer zu 100 % Recht. Geert Wilders in den Niederlanden möchte, dass seine Gesellschaft vor dem Islam geschützt wird. Das ist sein Ideal. Die linke Partei andererseits möchte aber den Rassismus stoppen. Das ist die Energie des Puschers. Sie schaffen sich ein eigenes Bild von der Gegenseite.

Dann gibt es Anhänger auf der einen und auf der anderen Seite. Sie sagen immer: „Ich bin nicht so wie der Puscher, aber er hat irgendwie Recht. Ich höre dem Puscher zu. Ich bin vernünftig. Ich bin nicht so extrem wie der Puscher.“

Wenn die Anhänger sich für ein Lager entschieden haben, können Sie es nur schwer wechseln. Wenn der Puscher extremer wird, wird es noch schwerer zu wechseln.

Nach dem Puscher und seiner Anhängerschaft gibt es noch eine dritte Rolle, nämlich die Rollen in der Mitte. Hier sind die Leute, denen egal ist, was da gesagt wird. Die Gleichgültigen stehen in der Mitte. Sie sagen, beispielsweise: „Ich muss meine Miete bezahlen, für mich ist es nicht wichtig, was der Puscher sagt.“ Neben Gleichgültigen findet man hier auch engagierte, differenzierte Menschen. Die hören die Puscher und sagen: „Ich entscheide mich für eine Mittelposition.“ Es gibt auch die sogenannten Berufsneutralen, die also von Beruf aus neutral sein müssen, Bürger wie Staatsanwälte, Bürgermeister, Polizeibeamte, die müssen sich mit gesamten Gesellschaft im Einvernehmen befinden müssen. Aber sie haben einen großen Nachteil, sie werden oft nicht gehört. In der Mitte stehen die Schweigenden. Hier ist man schwer oder gar nicht sichtbar.

Mertek: Das sieht aber schlecht aus. Kann man bei einer Polarisierung keine Brücken bauen, durch die Menschen etwas vernünftiger handeln können?

Brandsma: Dazu wollte ich jetzt kommen. Bei einer Polarisierung gibt es natürlich Menschen, die sagen: „Das ist aber nicht gut! Da gibt es Leute auf der einen Seite und auf der anderen Seite, die sich einfach nicht verstehen. Ich möchte, dass es hier ein Dialog entsteht. Ich möchte, dass wir dazwischen eine Brücke bauen.“ Das sind die so genannten Brückenbauer. Viele Bürgermeister verstehen sich z.B. als Brückenbauer.

Mertek: Was müssen diese Brückenbauer tun?

Brandsma: Sie entwickeln auf beiden Seiten Gegenmaxime und liefern damit Kraftstoff.

Hier ist zum Beispiel jemand, der die Flüchtlinge hasst und sagt „Alle Flüchtlinge kommen hierher, um ihre Taschen voll zu machen.“ Ein Brückenbauer würde dann entgegnen: „Ich muss jetzt einige Tatsachen nennen. In Syrien geht es um einen Krieg. Hast du nicht die schrecklichen Bilder gesehen? Glaubst du, dass die Leute reich sind, da sie ein Iphone haben? Na klar, dass sie es haben, aber sie brauchen ja es auf der Flucht.“ Der Brückenbauer muss sich auch mit der Gegenposition befassen. Es gibt Leute, die sagen: „Das ist kein Problem, wir schaffen das. Wir haben viele ausländische Restaurants, die bereichern unsere Gesellschaft.“ Ein Brückenbauer muss vor Ort präsent sein und erläutern, welche Sorgen Menschen im anderen Lager haben. Und da gibt es von Stadtteil zu Stadtteil eigene Probleme.

Puscher geben ja für die Polarisierung ständig Nahrung. Brückenbauer mildern jedoch die Polarisierung in vielen Fällen. Denn die Medien lenken ihre Kameras auf beide Seiten. Medien sind wie ein Resonanzraum für diesen Mechanismus. Es gibt also vier Rollen in einem Polarisierungsprozess: Die schweigende Mehrheit in der Mitte, die Puscher und ihre Anhängerschaft sowie die Brückenbauer. Es geht nicht hier um falsch oder richtig. Der Mechanismus zeigt lediglich, wie eine Polarisierung funktioniert. Nelson Mandela war früher ein Puscher, aber gegen Ende seines Lebens wurde er zum Brückenbauer.

Mertek: Wie können wir in Zeiten der Polarisierung das Problem lösen, wenn die möglichen Brückenbauer auch Angst haben und diese Funktion nicht wahrnehmen möchten oder können?

Brandsma: Brückenbauer können nur effektiv sein, wenn sich Gesprächspartner für den Dialog öffnen. Angst und Feindseligkeit sind ein Widerspruch in diesem Setting. In meinem Buch auf English (www.polarisatie.nl) spreche ich von vier Phasen: Prävention, Intervention, Mediation, Versöhnung. Dialog und die Arbeit der Brückenbauer haben nur eine Wirkung in der Präventionsphase, Mediationsphase und Versöhnungsphase. Ich schätzte es so ein, dass sich z.B. ein Land wie die Türkei im Augenblick nicht in einer von diesen drei Phasen befindet. Dialog hat keine Wirkung, wenn Leute noch in den Konflikt investieren und beiderseits nur ein Monolog herrscht.

Mertek: Gibt es noch andere Positionen?

Brandsma: Ja, es gibt noch eine fünfte Position, wenn sich die Polarisierung ausweitet und extrem wird und es sich um zwei große Lager der Anhänger handelt. Anhänger haben Verbindung miteinander, wenn es keine Möglichkeit gibt, in der Mitte zu bleiben. Wie George Bush einst sagte: „Entweder für uns oder gegen uns!“, dann gibt es keine Mitte mehr. Das ist ein Bild, das einen Bürgerkrieg charakterisiert.

Es ist die Position der Sündenböcke, die in der Mitte stehen. Wenn man nicht dem Puscher folgt – dem einen oder dem anderen – dann wird man zum Sündenbock gemacht. Es ist die einzige Position, die der Puscher hasst. Das ist seine Zielgruppe. Der islamische Staat hat die Mitte gespalten. Die Spaltung der Mitte ist die Vorstufe der Radikalisierung.

Mertek: Die Gesellschaft wird durch die Spaltung, nämlich Polarisierung radikalisiert und durch die Radikalisierung wird die Gesellschaft gespalten. Es ist doch ein Teufelskreis.

Brandsma: Ja, so ist es.

Mertek: Wie können wir dann die Problematik lösen? So sieht es ja die Gesellschaft sehr düster aus.

Brandsma: Hier gibt es vier Faktoren. Wenn man polarisieren will, muss man viel über Identität sprechen. Das wollen besonders die Puscher. Man muss wissen, was das Interesse des Menschen in der Mitte ist. Der erste Faktor ist die Identität des Individuums. Zweitens geht es um die Mitte, also die Zielgruppe. Wir müssen versuchen, die Mitte zu stärken und dafür andere Möglichkeiten finden, die Menschen aus den Polen zu rekrutieren. Wir müssen in der Mitte einen Dialog finden. Depolarisierung ist nur möglich durch die Stärkung der Mitte.

Ein anderer Faktor ist die Veränderung der Position. Und der vierte Faktor ist die Veränderung des Tones. Wir müssen einen gemäßigten Ton benutzen. Puscher führen Monologe. Wir brauchen aber Kommunikationsverbindung und Dialog. Diese vier Faktoren bilden den kognitiven Rahmen.

Mertek: Herr Brandsma, bei einer Polarisation gibt es ja zwei Puscher. Als Beispiel haben Sie auch die Situation in einem Land erwähnt, wo faktisch eine Diktatur herrscht. Aber was passiert, wenn zwischen beiden Puschern kein Gleichgewicht besteht? Ein Puscher, zum Beispiel ein Despot, hat die Macht eines Staatsapparats mit allen Mitteln, der andere vertritt nur eine Zivilgesellschaft und dessen Anhänger werden auch vertrieben. Gelten dann auch die Argumente der Polarisierung in diesem Fall? Was könnte man eigentlich tun, wenn die benachteiligten Vertriebenen von einem Puscher gleichzeitig als Sündenböcke für alle negativen Entwicklungen im Lande dargestellt werden und sie durch die Gleichschaltung der Medien von der Mehrheit der Bevölkerung nicht als Sündenbock, sondern im wahrsten Sinne des Wortes als Terroristen oder Verräter wahrgenommen werden?

Brandsma: Es gibt fasst nie ein Gleichgewicht zwischen Puschern, wohl gar nicht in einer Diktatur. Jeder Despot bedient sich des Mechanismus der Polarisierung und benutzt viele Möglichkeiten, seinen Gegner in den Medien in einem gewissen Licht darzustellen und Brennstoffe für Polarisierung zu liefern; sei es, seine Gegner als Terrorist, sei es als Verräter darzustellen. Die vier Wege, etwas gegenüberzustellen, haben eine Wirkung in einer Demokratie, nicht aber in einer Situation von Dominanz, wie Sie sie jetzt beschreiben.

    

Mertek: Eine Frage noch bezogen auf Deutschland. In der Sprache der deutschen Medien wird oft eine (verborgene) Polarisierung betrieben. In den Integrationsdebatten werden bestimmte Ausdrücke gebraucht wie „Kinder mit oder ohne Migrationshintergrund“. Worauf sollte man in den Medien oder im Alltag achten, damit man eine Polarisierung vermeiden kann? Denn sie fördert nicht nur die Diskriminierungsgefühle, sondern verhindert auch ein mögliches Wir-Gefühl und eine gesunde Identitätsfindung in der einheimischen Gesellschaft. Durch diese negativen Erfahrungen wird natürlich ein Puscher, der die Gesellschaft spalten will, erfolgreich. Was würden Sie darüber sagen? Wie könnte man generell gegen solche Polarisierungsdiskurse vorgehen? 

Brandsma: Ein wichtiger Punkt. Man soll meiner Meinung nach nicht nur auf Identität, sondern vor allem auf Loyalität achten. In den Medien fällt mir auf, dass Identität immer wieder auf Nummer eins kommt. Loyalität hingegen hat mit einem Beitrag zur Gesellschaft und mit der Verbindung der Bürger untereinander zu tun. Es kommt darauf an, Loyalität als Kriterium für Integration zu nehmen. Es gibt Deutsche, die nur Loyalität empfinden mit der eigenen Familie und eigenem Geld. Da ist Integration kaum möglich. Es gibt auch Deutsche, die nicht im familiären Rahmen handeln und sich für übergeordnete Ziele einsetzen, vielfältige Beiträge leisten, in der Arbeit und anderswo… Integration braucht eine neue Definition: seine Eigenartigkeit, Identität, Talente und Kompetenzen so einzubringen, dass man viele Verbindungen mit anderen in der Gesellschaft knüpfen kann. Keiner braucht Identität oder Religion aufzugeben, wenn diese Verbindungen da sind. Die Anzahl der Verbindungen ist die eigentliche Integrationsaufgabe. Migrationshintergrund ist wohl nur relevant, wenn es einer Person an Verbindung fehlt. Manche Deutschen ohne Migrationshintergrund haben diesbezüglich ein Problem und viele andere auch; erst dann ist es wichtig, von einer fehlenden Integration zu sprechen. Was kann man machen? Sich-darin-Üben, die Diskurse der Integration umzubauen, weg von Identität in Richtung Loyalität.

Mertek: Vielen Dank für Ihre Bereitschaft und das Gespräch.

Brandsma: Ich bedanke mich für Ihre Mühe.

 

PS: In seinem Buch „Polarisation“, das auf Englisch auf der Webseite www.polarisatie.nl zu bestellen ist, beschreibt er weit und breit die drei Grundregeln der Polarisation und fünf Rollen der Akteure sowie vier Faktoren der Depolarisation.

Letzte Aktualisierung: 3. Januar 2018
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