Gesellschaft Kolumnen

Der Tod in der Fremde

Muhammet Mertek

Jeder Mensch erlebt in seinem Leben viele Tragödien und Dramen; und auch das Sterben vieler Menschen ist oft von tragischen und dramatischen Ereignissen begleitet. In besonderem Maße gilt das für die türkische ‚Gastarbeiter-Generation‘, für jene erste Generation also, die vor ca. 40 Jahren nach Deutschland kam. Wenn ich die Begabung besäße, könnte ich zahlreiche Romane über ihre Schicksale schreiben. Denn Leben und Tod dieser Menschen haben tiefe Spuren hinterlassen.

Als die erste Generation vor Jahrzehnten nach Deutschland kam, hatte sie keinen hohen Ansprüche. Ihr einziges Ziel bestand darin, den Lebensunterhalt der Familie zu sichern und ein bescheidenes Auskommen zu haben. Dafür arbeitete sie sehr hart und unter schwierigsten Umständen. Schließlich ist es gar nicht so einfach, in der Fremde zu leben – in einer Gesellschaft mit einer anderen Sprache, Religion und Kultur, in einer Gesellschaft, die die Immigranten so oft als ‚die Anderen‘, als die ‚Ausländer‘ wahrnahm und ausgrenzte. Von den Einheimischen wurden sie oft nicht als ‚Menschen‘ betrachtet, sondern lediglich als ‚Arbeitskräfte‘. Doch trotz ihrer mangelnden Sprachkenntnisse, trotz aller sozialen und psychischen Diskriminierungen und trotz unzähliger weiterer Herausforderungen, welche die ihnen so fremde individualistische Konsumgesellschaft für sie bereit hielt, haben sie viele Schwierigkeiten gemeistert und sich mit dem Leben und den Menschen in ihrer neuen Heimat arrangiert. Der Preis freilich war hoch; denn mit ihrer Jugend haben sie ihre besten Jahre geopfert.

Inzwischen sind vier Jahrzehnte vergangen, und jene erste Generation in der Fremde hat viele Schösslinge hervorgebracht; einige von ihnen strahlend schön, andere stachelig und bleich. Auch Letztere sind für die Gesellschaft aber noch lange nicht verloren. Sie bedürfen nur der geschickten Hände von opferbereiten und bescheidenen Gärtnern.

Es ist sogar gar nicht so unwahrscheinlich, dass die Rosen demnächst noch prachtvoller gedeihen und die Lilien noch majestätischer aufblühen werden. Nein, kein Zweifel, sie werden sich gut entwickeln. Jene erste Generation jedoch, mit der alles begonnen hat, wird verblühen. Sie wird uns einer nach dem anderen verlassen. Das Leiden, das aus ihrem Sterben erwächst, bekommen wir heute schon oft genug zu spüren. Es bleibt zu hoffen, dass sich die nachfolgenden Generationen immer an die Opferbereitschaft ihrer Eltern erinnern werden und dass sie das Erbe, das diese in so vielen Jahren aufgebaut haben, weiter veredeln.

Denn ihre Eltern haben in erster Linie auch für sie gearbeitet. Besonders in der ersten Phase unter schwierigsten Arbeitsbedingungen als ‚Arbeiter auf Zeit‘ in Deutschland oder auch in anderen europäischen Ländern. Was nicht geplant war – ihre Kinder entschieden sich zu bleiben. Spätestens mit dem Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft wurde ihnen Deutschland endgültig zur Heimat. Das jedoch macht die Sache nicht einfacher. Inzwischen geht es längst nicht mehr nur um Arbeitskraft, sondern auch um Kultur, Sprache, Religion und Lebensweise. Zum ersten Mal in der Geschichte dieses Landes bilden die Türken eine eigene und zudem sehr große Diaspora. Diese auch dauerhaft in einer fremden Gesellschaft etabliert zu haben, ist eine historische Leistung. Die Diaspora der Türken in Deutschland hat die Chance, den Grundstein zu einer friedvollen und menschenwürdigen Kultur zu legen. Sie darf sich aber nicht von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzen, sondern muss Schulter an Schulter mit ihr versuchen, gesellschaftliche Probleme zu lösen. Das erfordert Verantwortung, Mut und Aufrichtigkeit.

Das Fundament dieser Diaspora wurde von Millionen von Menschen gemauert. Diese unbekannten Menschen aus Anatolien haben ihm ihren Schweiß, ihre Muskelkraft und ihre unbezahlbare Jugend geopfert. Zigtausende von ihnen kamen einst nach Deutschland. Sie kamen mit dem Flugzeug oder mit dem Zug; zumeist in Gruppen und verbunden durch ein Band, das sie alle einte: das Band der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Heute jedoch kehren sie oft allein zurück – in Kisten verpackt als Frachtgut, aller Hoffnungen, aber auch aller Sorgen ledig. Für ihre letzte Ruhe kehren sie der Fremde den Rücken und hinterlassen unzählige tragische Gefühle.

In meiner Stadt in Deutschland (in Hamm) hatten wir einen Nachbarn. Als er vor einigen Jahrzehnten seinen Militärdienst in der Türkei abgeleistet hatte, erhielt er ein Bewilligungspapier für Deutschland und machte sich sofort auf den Weg. Jahrelang arbeitete er als Bergmann in einer Zeche im Ruhrgebiet. Er verbrachte einen Großteil seines Lebens in Hunderten von Metern Tiefe unter Tage, arbeitete anfangs noch mit Hacke und Schaufel, später dann mit schweren Maschinen. Dieser Mann tat alles dafür, seinen Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen und sie zu wohltätigen Menschen zu erziehen. Von seinem Ersparten kaufte er zwei Häuser, eins in der Türkei und eins in Deutschland. Sein ‚Hobby‘ war es, im Garten zu arbeiten. Aber weil seine Lunge den Kohlenstaub so begierig aufsaugte wie ein Schwamm das Wasser, glich sie irgendwann mehr einem Ofenrohr als einem Atmungsorgan. Eines Tages wurde er krank und musste ins Krankenhaus. Dort sagten ihm die Ärzte: „Sie haben Krebs und nur noch 3 Monate zu leben.“ Und wirklich, er fühlte den Tod quasi kommen. Die Ärzte sollten Recht behalten. Unser Nachbar war nur einer von vielen, einer von Hunderten ähnlicher Fälle.

Auch einem anderen Bekannten gelang es zunächst, den schwierigen Lebensbedingungen in seiner neuen Heimat zu trotzen und sich dort eine Existenz aufzubauen. Sein ganzes Leben lang schuftete er hart, bis er schließlich in Rente ging. Seine Kinder wuchsen auf, gründeten Familien und schenkten ihm Enkel. Zwei seiner Söhne wurden in ihrem Beruf ‚Meister‘. Sie verdienten viel Geld, und er war stolz darauf. Denn vor allem für sie hatte er sich so geplagt. Was ihn jedoch schwer belastete, war, dass einer seiner Söhne einen sehr schlechten Charakter hatte. Eines Tages sagte seine Frau sogar: „Gott möge mich sterben lassen, ohne mir seine Augen noch einmal zu zeigen.” Und so geschah es dann auch. Die Eltern fuhren in die Türkei in den Urlaub. Auf dem Weg vom Dorf zurück in die Stadt mit dem Auto eines Bekannten verunglückten sie und starben. Sie saßen auf der Rückbank, als der Wagen einen steilen Abhang hinab rutschte. Der Fahrer war unerfahren und betrunken.

Ein großer Dichter sagte einmal: „Große Einladung… Wüsste ich doch nur wo? Wann? / Wüsste ich doch, aus welchem Baum das Holz meines Sarges ist!” Irgendwann einmal werden wir alle sterben. Alles andere ist bedeutungslos.

Es blieb ihnen vielleicht erspart, in einer Holzkiste in die Türkei zurückgeschickt zu werden, aber ihr Traum von einem erfüllten Lebensabend ging nicht mehr in Erfüllung. Das neue Auto stand noch ungefahren in der Garage, und in der Wohnung, die sie gerade erworben hatten, konnten sie nicht einmal eine einzige Nacht verbringen. All diese Dinge besaßen nun keinen Wert mehr. Ist das etwa nicht tragisch?

Lebenslang zu arbeiten, nur um eine Wohnung zu besitzen, eine Familie zu gründen, den Kindern eine bessere Zukunft zu bieten, und dann irgendwann still und unbeachtet die Welt zu verlassen, war das Schicksal vieler Angehöriger der ersten Generation. Auf der Steinbank der Moscheen, die sie selbst gebaut haben, ruhen viele von ihnen einige Minuten lang wie auf einem Thron, bevor sie ihre Reise ins Jenseits antreten.

Viele der ehemaligen Gastarbeiter und jetzigen Rentner verbringen einige Monate in Deutschland und einige Monate in der Heimat. Schlägt ihnen dann die Stunde der ‚großen Einladung‘, kehren sie für immer in ihre ewige Heimat zurück – egal wo sie die Einladung erreicht… Danach fallen ihre Lebensbilanzen höchst unterschiedlich aus: Einige von ihnen hinterlassen charakterstarke und rechtschaffene Kinder, die die Gesellschaft nach vorn bringen, während die Kinder anderer im Drogensumpf versinken, die Gefängnisse bevölkern und unseriösen Geschäften nachgehen. Ja, einige hinterlassen glücklichere Spuren, andere wiederum unglücklichere. Denn die Fremde hat viele Gesichter.

Die erste Generation emigrierte allein aus materiellen Gründen nach Deutschland. Verständlicherweise standen die Finanzen im Mittelpunkt ihres Lebens. Doch ihre Ersparnisse brachten ihnen oft kein Glück. Sowohl in der Türkei als auch in Deutschland nutzte man ihre Leichtgläubigkeit und Vertrauensseligkeit schamlos aus. Vielen von ihnen blieb es deshalb verwehrt, ihr entbehrungsreiches Leben in der Fremde richtig zu genießen. Sie kamen als Fremde, und als Fremde verließen sie das Land wieder. Was bleibt, ist die Erinnerung an sie. Viele von Ihnen waren Analphabeten, aber sie waren Menschen mit reinen Gefühlen. Wir dürfen sie nie vergessen. Denn sie waren es, die das Fundament der Diaspora gemauert haben. Trotz aller widrigen Umstände haben sie den Boden für eine liebevolle und friedliche Kultur bereitet, die in der Zukunft weiter aufblühen wird.

Die Fontäne, Nr. 27, 2005

Letzte Aktualisierung: 7. Januar 2017
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