Erziehung & Bildung Kolumnen

Arabesken für die Unendlichkeit

Als Muslime werden wir bestimmt schon einmal in Istanbul oder Bursa Moscheen aus osmanischer Zeit besichtigt und voller Bewunderung die Motive und Strukturen ihrer Ornamente und Verzierungen betrachtet haben. Was wir vielleicht aber nicht wussten, ist, welche Geheimnisse diese Motive und Strukturen bergen. Denn muslimische Architekten haben bereits vor 500 Jahren Muster geschaffen, die keinen Anfang und kein Ende zu haben scheinen, was zeitgenössische Forscher bis noch vor 40 Jahren für unmöglich hielten.

Als Muslime werden wir bestimmt schon einmal in Istanbul oder Bursa Moscheen aus osmanischer Zeit besichtigt und voller Bewunderung die Motive und Strukturen ihrer Ornamente und Verzierungen betrachtet haben. Was wir vielleicht aber nicht wussten, ist, welche Geheimnisse diese Motive und Strukturen bergen. Denn muslimische Architekten haben bereits vor 500 Jahren Muster geschaffen, die keinen Anfang und kein Ende zu haben scheinen, was zeitgenössische Forscher bis noch vor 40 Jahren für unmöglich hielten.

Diese Muster, denen wir in so vielen Moscheen vom Mittleren Osten bis nach Zentralasien begegnen, präsentieren uns ineinander verschachtelte Formen von Sternen, Rechtecken und Rhomben, die ihrerseits von offenbar unendlich oft gezackten Linien durchschnitten werden. Als unkundiger Betrachter mag man die Muster für bloße Dekorationen halten, die gewissenhaft mit Zirkel und Lineal gestaltet wurden. In Wahrheit jedoch, das berichteten kürzlich amerikanische Forscher im renommierten Wissenschaftsmagazin Science, handelt es sich hier um höchst komplexe geometrische Muster, die von ausgeprägtem mathematischem Verständnis zeugen.

Die Motive der Ornamente folgen einem Rhythmus, der sich schier ins Unendliche fortpflanzt. Dabei erkennt man in den Teilelementen der Mosaike unendlich viele Wiederholungen. Bemerkenswert ist, dass sich jede einzelne dieser Wiederholungen eine ganz eigene Identität bewahrt, dass keine von ihnen besonders heraus sticht und die anderen zu übertrumpfen versucht. So wird ein Zustand der Harmonie und Ruhe erreicht. Das ganze Muster hingegen wiederholt sich niemals.

Offenbar haben die muslimischen Architekten mit wenigen einfachen Schablonen gearbeitet, aus denen sie ihre Muster konstruierten. Und so merkt man diesen Ornamenten förmlich an, dass die Architekten ihrer Begeisterung für die ungeahnten Möglichkeiten der Vielfalt freien Lauf ließen.

Bis vor kurzem war man noch davon ausgegangen, dass die Ornamente mit Hilfe von Lineal und Zirkel entstanden seien. Doch deren Verwendung hätte einen extrem hohen Aufwand erfordert. Wie in Abbildung 2 zu ersehen, müssen für die Zeichnung eines einzigen Sterns Schritt um Schritt neue Linien gezeichnet (blau) und dann teilweise wieder gelöscht werden (rot). Noch wichtiger ist, dass die (gestrichelten) Hilfskreise und Hilfslinien sauber und perfekt auf den Untergrund gebracht werden. Auf kleiner Fläche stellt das kein Problem dar, aber je größer die Fläche, desto schwieriger wird es, geometrische Verzerrungen oder Lücken zu vermeiden. Doch selbst die komplexesten Muster jener prächtigen Ornamente der Moscheen weisen kaum solche Fehler auf.

Den Beweis dafür, dass hier Schablonen zum Einsatz kamen, liefern Schriftrollen aus dem 15. Jahrhundert. Dort sind neben den in roter und blauer Tinte gezeichneten Zickzack-Linien im Hintergrund auch verschiedene eckige Formen aufgezeichnet, aus denen sich eine unendliche Vielfalt an Ornamenten zusammenlegen lässt – soweit sie nur sorgfältig genug aufeinander abgestimmt werden. (Abbildung 3)


Abbildung 1

Torbogen der Grünen Moschee in Bursa/Türkei


Abbildung 2

 


Abbildung 3

 


Abbildung 4

Aus diesen Schablonen identifizierten die Forscher fünf grundlegende Musterschablonen:

  1. das Zehneck (regulär, Winkel jeweils 144°),
  2. das Fünfeck (regulär, Winkel jeweils 108°),
  3. das Sechseck (irregulär und konvex mit Winkeln von 72° und 144°),
  4. den Rhombus (Winkel von jeweils 72° und 108°) und
  5. eine Schleifenform (irreguläres Sechseck mit Winkeln von jeweils 72° und 216°) (Abbildung 4)

Diesen ausgeklügelten Bausatz aus fünf Fliesenformen nannten die Forscher Girih-Kacheln. Auf jeder Kachel befinden sich außerdem spezielle Linien, die im Mosaik zusätzliche Muster ergeben. Vermutlich erfüllten diese Linien auch den Zweck, den Handwerkern dabei zu helfen, die Kacheln passend aneinander zu legen. Das Zusammensetzen der Schablonen ließ mit relativ geringem Aufwand großräumige und lückenlose Muster entstehen. Man musste lediglich darauf achten, dass alle Kanten gleich lang waren und dass die aufgezeichneten Linien immer im gleichen Winkel von 72° auf die Kanten trafen. Dann ließen sich Motive gestalten, deren Gesamtsymmetrie viel komplizierter war als die ihrer Einzelteile: Während eine Raute nur eine sogenannte zweifache Drehsymmetrie besitzt (dreht man sie um 180° oder 360°, sieht sie wieder gleich aus), weisen aus mehreren Elementen bestehende Muster oft eine fünf- oder sogar zehnfache Symmetrie auf. Das heißt, dass man sie auf fünf oder zehn Arten verdrehen kann, und trotzdem immer wieder das gleiche Ausgangsbild erhält.

Girih-Kacheln zieren zahlreiche islamische Kunstwerke des Nahen und Mittleren Ostens. Man findet sie an Bauwerken in Usbekistan, Afghanistan, Iran und in der Türkei. Mithilfe der fünf identifizierten Girih-Kacheln gelang es den Forschern, alle Muster der Ornamente nachzubilden und die Originale sogar in punkto Exaktheit zu übertreffen. Unklar blieb zwar, ob Papierschablonen oder haltbarere Holzplatten verwendet wurden. Es konnte jedoch nachgewiesen werden, dass die Verwendung der Kacheln allen Winkelfehlern ein Ende setzte und dass sie Größe und Ausrichtung der Formen von nun an fest definierte. Allerdings bedienten sich die Architekten der neuen Schablonenmethode nicht überall. In Bursa, Türkei, etwa weist der Ausschnitt eines Torbogens der Grünen Moschee (Abbildung 1) lediglich die bereits bekannten einfachen Sternmuster auf, die sich in kurzem Abstand unspektakulär wiederholen. Dabei war die neue Methode bei Errichtung der Moschee im 15. Jahrhundert bereits bekannt.


Abbildung 5

Die persische Grabstätte Gunbad-i Kabud in Maragha, erbaut 1197 (Abbildung 5), dokumentiert eindeutig, dass die Girih-Kacheln schon um diese Zeit bekannt gewesen sein müssen. Denn auf insgesamt acht großen Steintafeln entdecken wir dort ein frühes ornamentales Meisterwerk. Im 13. Jahrhundert tauchten immer mehr Motive auf, die zuvor unbekannt waren und die man allein mit Lineal und Zirkel wohl kaum hätte zeichnen können. Die frühere Basis, der Stern, verschwand allmählich und die Linienführung wurde komplizierter.


Abbildung 6

Die Perser feilten an den geometrischen Feinheiten und führten weitere Hilfslinien ein. Schon in der Gunbad-i Kabud Grabstätte zum Beispiel fügten sie zwischen die steinernen Hauptgeraden ein Geflecht noch feinerer Verästelungen ein. (Abbildung 6) Mit der Zeit gelang es den muslimischen Architekten dann, unendliche Muster zu entdecken, die fünf- und sogar zehnfach symmetrisch sind.

Diese Muster, in denen man in den Teilelementen der Mosaike unendlich viele Wiederholungen erkennt, die sich aber im Großen nie wiederholen, bezeichnet man auch als quasikristalline Muster. Erst in den 60er Jahren konnte der mathematische Beweis dafür erbracht werden, dass quasikristalline Muster ohne Lücken entstehen können, wenn man die zugrunde liegende Fläche aus einer begrenzten Anzahl von Kacheln zusammenlegt. Was man damals als ein mathematisches Wunder feierte, benötigte allerdings einen Satz von 20.426 (!) verschiedenen Teilen – und das, obwohl entsprechende Muster in Iran schon 500 Jahre früher unter Verwendung von nur drei Teilen entstanden waren. Eine erste elegante mathematische Lösung lieferte der Brite Roger Penrose erst Anfang der 70er Jahre mit seinen berühmt gewordenen Penrose-Parkettierungen, die mit zwei Kacheln auskamen. Doch bei aller Bewunderung – die beiden Schablonen wären den muslimischen Architekten mit Sicherheit bekannt vorgekommen. Es handelte sich um eine dicke und eine dünne Raute mit Eckwinkeln von 72° und 36°.

Viele bahnbrechende Leistungen und Erfindungen muslimischer Wissenschaftler vergangener Jahrhunderte u.a. in den Disziplinen Mathematik, Astronomie, Medizin und Technik werden heute allmählich wiederentdeckt, um dann als Errungenschaften der modernen westlichen Welt in die Wissenschaftsgeschichte einzugehen. Was die hier vorgestellten Motive und Muster betrifft, so besteht an ihrer Urheberschaft überhaupt kein Zweifel. Die Frage, die sich Muslime stellen müssen, lautet allerdings, ob nicht sie selbst Schuld daran tragen, dass die westliche Welt solche muslimischen Errungenschaften widerspruchslos für sich beanspruchen kann.

Muhammet Mertek

Letzte Aktualisierung: 14. Januar 2017
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